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Kündigung wegen Eigenbedarfs – wann ist sie rechtens?

Illustration: Patric Sandri

Will die Vermieterschaft ihre Wohnung selbst bewohnen, ziehen Mieter*innen oft den Kürzeren. Doch auch gegen Eigenbedarf kann man sich wehren, selbst wenn dieser angeblich noch so dringend ist.

Peter Klein ist zurück aus den Ferien. Im Briefkasten findet er die Abholeinladung für einen eingeschrieben Brief. Eingeschriebene Post verheisst meistens nichts Gutes. Deshalb holt Klein den Brief sofort bei der Postfiliale ab. Und tatsächlich, es ist die Kündigung seiner Wohnung. Formell scheint die Kündigung korrekt zu sein, der Absender hat das amtlich genehmigte Formular verwendet. Als Kündigungsgrund wird «dringender Eigenbedarf» angegeben. Etwas scheint mit dieser Kündigung dennoch nicht zu stimmen. Sie wurde nämlich von einem gewissen «Andreas Flückiger» unterschreiben. Seine Vermieterin heisst doch Annerös Hugentobler. Wer zum Geier ist also Flückiger?

Kauf bricht Miete nicht

Am Telefon stellt Hugentobler Klein vor vollendendete Tatsachen. Sie habe die Wohnung an Flückiger verkauft. Dieser habe ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht habe ablehnen können. Nun sei eben Flückiger der neue Eigentümer. Gegen diesen Eigentümerwechsel kann sich Klein nicht wehren. Wenn eine Wohnung verkauft wird, tritt die neue Eigentümerschaft von Gesetzes wegen in die bestehenden Mietverträge ein. Die Rechte und Pflichten aus Kleins Mietvertrag sind also auf Flückiger übergegangen. Als neuer Vermieter kann er den Mietvertrag kündigen, sofern er die vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungstermine und -fristen einhält. Er muss im Zeitpunkt der Kündigung aber tatsächlich bereits Eigentümer sein, also im Tagebuch des Grundbuches schon als neuer Eigentümer eingetragen sein. Andernfalls ist die Kündigung unwirksam.

Kündigung nach Hausverkauf

«Wenn der Vertrag eins zu eins auf Flückiger übergeht, dann ist folglich auch die vertragliche Mindestdauer weiterhin verbindlich», triumphiert Klein. Sein Mietvertrag kann nämlich erst in zwei Jahren ordentlich gekündigt werden.

Das stimmt, grundsätzlich ist Flückiger an die zweijährige Vertragsdauer gebunden. Doch wenn Käufer*innen einer Liegenschaft einen dringenden Eigenbedarf für sich oder nahe Angehörige geltend machen, dürfen sie das Mietverhältnis ausnahmsweise mit der gesetzlichen Frist (3 Monate für Wohnungen, 6 Monate für Geschäftsräume) auf den nächsten ortsüblichen Termin kündigen. Die Mieterschaft kann sich dann gegenüber der Käuferschaft nicht auf die Mindestdauer berufen. So steht es in Artikel 261 des Obligationenrechts. Kann Flückiger jedoch keinen dringenden Eigenbedarf nachweisen, bleibt er an die vertraglichen Kündigungsmodalitäten – also auch an die Mindestdauer – gebunden.

Dringender Eigenbedarf

Eigenbedarf bedeutet, dass die Eigentümer*innen einer Immobilie diese nicht mehr vermieten, sondern sie selbst bewohnen wollen. Sie können den Eigenbedarf aber auch für ihre nächsten Verwandten und Verschwägerten geltend machen. Dazu gehören Ehegatt*innen, eingetragene Partner*innen, Konkubinatsparter*innen, Kinder, Eltern, Grosskinder sowie Geschwister und deren Ehegatt*innen.

Der Eigenbedarf muss zudem tatsächlich dringend sein. Verlangt wird ein aktueller und ernstgemeinter Bedarf. Die Anforderungen an die Dringlichkeit sind sehr hoch. Es würde beispielsweise nicht genügen, wenn Flückigers Tochter allein der schönen Aussicht wegen in die Wohnung einziehen möchte. Dringen wäre der Eigenbedarf hingegen dann, wenn Flückiger in seiner aktuellen Wohnung von massivem Schimmelbefall betroffen wäre und aus gesundheitlichen Gründen so schnell wie möglich umziehen müsste.

Rasches Handeln

Will die neue Eigentümerschaft wegen dringenden Eigenbedarfs kündigen, ist schnelles Handeln gefordert. Sie muss den nächstmöglichen Termin nutzen, auch wenn für die Kündigung nur noch wenige Tage zur Verfügung stehen. Wurde Flückiger beispielsweise am 22. Oktober 2023 als neuer Eigentümer ins Grundbuch eingetragen und ist der nächste ortsübliche Kündigungstermin der 31. Januar 2024, so muss die Kündigung unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist von drei Monaten bis spätestens am 31. Oktober 2023 bei Klein eingetroffen sein. Verpasst Flückiger die erste Gelegenheit zur ausserordentlichen Kündigung, ist er inskünftig an die vertraglichen Fristen und Termine für die Kündigung gebunden, insbesondere auch an die Mindestvertragsdauer. Eine zu früh – das heisst vor Eigentumsübergang – ausgesprochene Kündigung ist mangels Eigentümerstellung nichtig.

Im Falle einer vorzeitigen Kündigung kann Klein von Hugentobler, seiner ehemaligen Vermieterin, Ersatz für einen allfälligen Schaden verlangen. Muss er zum Beispiel in eine teurere Wohnung umziehen, muss Hugentobler ihm die Mietzinsdifferenz bis zum nächsten regulären Kündigungstermin vergüten.

Kündigung wegen Sperrfrist

Der dringende Eigenbedarf ist für Vermieter*innen – egal wie lange sie die Liegenschaft schon besitzen – ein schlagkräftiges Kündigungsargument, da es sogar eine allfällige Kündigungssperrfrist zu durchdringen vermag. Diese schützt Mieter*innen eigentlich nach Abschluss eines Schlichtungs- oder Gerichtsverfahrens unter gewissen Voraussetzungen drei Jahre lang vor Kündigungen. Nämlich dann, wenn das Verfahren mit einem Vergleich abgeschlossen wird oder wenn ein Urteil oder Urteilsvorschlag weitgehend zugunsten der Mieterschaft ergeht. Ebenfalls zum Tragen kommt der dreijährige Kündigungsschutz, wenn Vermieter*innen ihre Ansprüche zurückziehen, reduzieren oder nach einem gescheiterten Einigungsversuch der Schlichtungsbehörde nicht ans Gericht gelangen, obwohl sie das könnten. Kann die Vermieterschaft einen dringenden Eigenbedarf geltend machen, gilt dieser Kündigungsschutz gemäss Artikel 271a Absatz 3 des Obligationenrechts nicht.

Immolobby schaltet auf Turbo

Für die Immobilien-Lobby kann es nicht schnell genug gehen, bis Mieter*innen die Wohnung verlassen müssen, falls die Vermieterschaft diese für den Eigenbedarf beansprucht. Das Recht der Mieter*innen, solche Kündigung anzufechten mit der Folge, dass es zu längeren Gerichtsverfahren kommen kann, in denen Vermieter*innen die Dringlichkeit des Eigenbedarfs beweisen müssen, ist der Immolobby ein Dorn im Auge. Deshalb will sie das Verfahren beschleunigen und die Einsprachemöglichkeit der Mieterschaft einschränken. Gemäss ihrer parlamentarischen Initiative soll eine Kündigung der Mieträumlichkeiten nicht erst bei einem «dringenden» Eigenbedarf möglich sein, sondern bereits dann, wenn Vermieter*innen «einen bei objektiver Beurteilung bedeutenden und aktuellen Eigenbedarf» geltend machen können. Damit sollen Mieter*innen künftig noch einfacher und schneller aus ihrer Wohnung geworfen werden können.

Leider hat der Nationalrat dieser Vorlage zur Änderung im Mietrecht bereits zugestimmt. Nun steht sie in der Herbstsession im Ständerat zur Debatte. Dass dieser die Aushöhlung des Mieterschutzes stoppt, ist nicht zu erwarten. Dem Mieterinnen- und Mieterverband bleibt daher nichts anderes übrig, als das Referendum zu ergreifen.

Anfechten und Erstreckung verlangen

Bleibt Klein nun nichts anders übrig, als klein beizugeben? Nein, denn trotz Eigenbedarf hat er das Recht, die Kündigung als missbräuchlich anzufechten. Dann muss nämlich Flückiger den Eigenbedarf und dessen Dringlichkeit beweisen. Und selbst wenn ihm das gelingen sollte, kann Klein einen Aufschub verlangen, eine sogenannte Erstreckung des Mietverhältnisses. Voraussetzung ist, dass die Kündigung für ihn eine Härte darstellt. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum ist eine Erstreckung auch möglich, wenn der Vermieter Eigenbedarf geltend macht.

Klein sollte die Kündigung innert 30 Tagen nach Erhalt der Kündigung bei der Schlichtungsbehörde als missbräuchlich anfechten. Einen Antrag auf Mieterstreckung muss er nicht extra stellen. Dieser ist nämlich in der Anfechtung der Kündigung inbegriffen. Wenn die zuständige Schlichtungsbehörde die Kündigung nicht als missbräuchlich ansieht, muss sie automatisch prüfen, ob er einen Anspruch auf Erstreckung hat. Das Verfahren vor der Mietschlichtungsbehörde ist für Mieter*innen kostenlos, ob sie nun eine Kündigung anfechten oder eine Erstreckung beantragen.

Die maximale Erstreckungsdauer beträgt bei Wohnungen vier Jahre. Wie lange das Mietverhältnis tatsächlich erstreckt wird, liegt im Ermessen der zuständigen Schlichtungsbehörde. Sie hat dabei zwischen den Interessen der Mieter- und denen der Vermieterschaft abzuwägen. Als Härtegründe gelten beispielsweise eine lange Mietdauer, eine starke Verwurzelung am Wohnort, knappe finanzielle Verhältnisse oder wenn Kinder unter dem Schuljahr die Schule wechseln müssten. Entscheidend ist auch die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Klein sollte seine Suchbemühungen zuhanden der Schlichtungsstelle deshalb glaubhaft belegen können, etwa mit Kopien von Bewerbungsschreiben oder Internetanfragen.

Kaufkraft-Killer Miete

Eine Demonstrantin mit einem Schild auf dem Bundesplatz in Bern.

Seit langem hat sich der Mieterinnen- und Mieterverband wieder an einer nationalen Demonstration beteiligt. Dafür gibt es gute Gründe.

Alles wird teurer: die Lebensmittel, die Energie, die Krankenkassenprämien und auch die Mieten. Viele Haushalte in der Schweiz – und nicht nur die mit den tiefen Einkommen – spüren dies im Portemonnaie. Denn die Löhne und Renten halten nicht mit der Teuerung Schritt. Ende Monat bleibt vielen kaum etwas übrig. Und die Aussichten sind nicht eben gut: Die Temperaturen werden langsam tiefer und die Heizsaison steht schon fast wieder vor der Tür. Die Erhöhung der Krankenkassenprämien für 2024 wird erst noch kommuniziert. Und am 1. Dezember dürfte der Referenzzinssatz zum zweiten Mal in diesem Jahr ansteigen, und damit viele Mieten.

Dies alles hat den Mieterinnen- und Mieterverband dazu bewegt, sich an der nationalen Kaufkraft-Demo vom 16. September zu beteiligen. Mehr als 15 000 Menschen forderten auf dem Bundesplatz faire Löhne und Renten und Massnahmen gegen die steigenden Krankenkassenprämien und die explodierenden Mieten.

Letztere sind für die meisten Haushalte in der Schweiz der grösste Ausgabenposten. Bei manchen sind es bis zu 40 Prozent des Einkommens, die für die Miete draufgehen. Das dürfte eigentlich nicht so sein. Viele der Mieten sind höher, als das Gesetz es erlaubt: Insgesamt zahlen die Mietenden jedes Jahr über 10 Milliarden zu viel für ihre Wohnungen – pro Haushalt rund 370 Franken jeden Monat. Das sind 370 Franken, die anderswo fehlen.

Als Mittel gegen die zu hohen Mieten fordert der Mieterinnen- und Mieterverband eine automatische Mietzinskontrolle. Das Parlament hat sie abgelehnt, jetzt soll die Bevölkerung mitreden können. Eine entsprechende Volksinitiative ist in Vorbereitung und wird nächstes Jahr lanciert.

Text: Andrea Bauer

Verdrängung in den Bergen

In Andermatt fehlen Wohnungen für Einheimische und Hotelangestellte. Foto: Keystone/Stefan Bohrer

Auch im Alpenbogen wird es zunehmend schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Eine aktuelle parlamentarische Initiative könnte die Lage gar noch verschlimmern. Eine Reise von Graubünden via Andermatt ins Wallis.

Ziemlich genau am Tag, an dem dieses Heft im Briefkasten liegt, hilft Daniel Kasel seiner Mutter beim Zügeln. Die Pensionärin aus dem Oberengadin «kommt im Puschlav unter», schreibt der Architekt, «dort gibt es noch zahlbaren Wohnraum». Seine Mutter wohnte in der ChesaFaratscha in Celerina. Den Bewoh­ ner*innen teilte die Besitzerin «Neue Haus AG» letztes Jahr mit, sie wolle aus den bisher 22 Wohnungen 14 Einheiten «im absoluten High-­End­-Segment» machen, wie die «Engadiner Post» und weitere Medien berichteten. Aktuell ist das Projektgestoppt, weil Helvetia Nostra (die zur Fondation Franz Weber gehö­rende Stiftung) die Baubewilligung anficht. Aber das Haus steht bereits leer, die letzten Mietparteien ziehen Ende Sep­tember aus, dies nachdem sie die vergan­genen Monate hinter Gerüst gewohnt haben. Von den älteren Mieter*innen hat niemand eine bezahlbare Wohnung im Oberengadin gefunden, weiss Daniel Kasel: «Alle Pensionäre mussten das Tal verlassen.» Sie müssen sich weit entfernt vom bisherigen Zuhause und ihrem nach­barschaftlichen Netz neu zurechtfinden – die einen im Bergell, andere im Puschlav oder rund um Chur, ein Paar ist ins Appenzellische gezogen. Zwei von ihnen hatten zeitlebens im Oberengadin für die Post gearbeitet – und der Post gehörte das Haus einst auch. Bis es schliesslich via Pensionskassen zur «Neue Haus AG» kam, die beim letzten Verkauf am meisten bot.

Trotz gutem Budget nichts gefunden

Auch David Zimmermann suchte vergeb­ lich eine neue Wohnung im Oberengadin. Er war zehn Jahre lang weit herum geschätzter Jugendarbeiter in St. Moritz. Dann meldete sein Vermieter Eigenbe­darf an. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause klapperte der gebürtige Aar­gauer das halbe Tal ab. Sein Budget lag bei 2000 Franken Monatsmiete. Er fand nichts. Wohnungen, die für diesen Betrag oder weniger ausgeschrieben waren, «waren entweder komplett überteuert oder Haustiere waren nicht zugelassen, ich sah auch Löcher». Er ist verankert in der Gegend, «das Engadin war zehn Jahre lang mein Lebensmittelpunkt», erzählt er. Für seinen Abschiedsapéro rechnete David Zimmermann mit 30 Gästen – es kamen 80. Jetzt ist er zurück in der Gegend, in der er aufgewachsen ist. Als er vor seinem Wegzug den Jugendlichen in St. Moritz erzählte, weshalb er geht, habe einer der Jungs zu ihm gesagt: «Uns wurde auch gerade gekündigt.»

Die Wohnungsknappheit im Ober­engadin ist vergleichbar mit jener in Städten wie Zürich, bezahlbarer Wohn­raum für die im Tal arbeitende Bevölke­rung schon lange knapp. Corona habe die Situation weiter verschärft, sagt die Bündner Grossrätin Franziska Preisig (SP), Vorstandsmitglied des MV Grau­bünden. Man müsse das gesamte Engadin als Hotspot betrachten, nicht nur ein­zelne Gemeinden wie St. Moritz: «Der Druck verschärft sich, bis hinunter ins Unterengadin. Die anhaltend hohe Nachfrage führt zu Leerkündigungen.» Bis 2031 dürfte die Nachfrage um 15 % wachsen, wie eine neue Studie des Wirtschaftsforums Graubünden zeigt. Treiber seien «die Alterung und neu allenfalls ein Verdrängungseffekt durch die Zweitwohnungsnachfrage».

Die Wohnungsknappheit im gesamten Engadin ist mit der in Zürich vergleichbar (Bild: St. Moritz). (Foto: KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

Altrechtliche Wohnhäuser retten

Wer immer schon gegen die Zweit­wohnungsinitiative war, argumentiert, deren Annahme 2012 und das daraus re­sultierende Zweitwohnungsgesetz (ZWG) mit der Beschränkung auf 20 Prozent Zweitwohnungen pro Gemeinde sei wegen der verknappenden Wirkung auf Wohnraum schuld an der Verdrängung. Aber der heutige Druck auf die Mieten ist weniger der Initiative selber als viel mehr den Lücken im Gesetz geschuldet, die das Parlament zu verantworten hat. Um die Hausbesitzenden und ihre Eigentums­rechte nicht zu stark einzuschränken, hat man die von der Stimmbevölkerung an­genommene Initiative stark aufgeweicht. Als Folge davon steigt der Druck auf die sogenannt altrechtlichen Wohnhäuser, erklärt die Juristin Preisig: «Über 90 Pro­zent der Wohnungen in den alpinen Regionen sind in Häusern, die vor der Annahme der Zweitwohnungsinitiative gebaut wurden. Mit denen kann man immer noch machen, was man will, sie können auch als Zweitwohnungen gebraucht werden.» Darum, sagt sie, «werden dort jetzt nach und nach die Menschen rausgeschmissen». Dagegen und überhaupt gegen die Nutzung von Wohnungen als Zweitwohnungen sollten die Gemeinden und Kantone bei einer unerwünschten Entwicklung Vorschriften erlassen, die strenger sind als die im durchlöcherten ZWG formulierten – aber keiner der bürgerlich dominierten Alpen­ kantone hat ein Interesse daran. «Aus diesem Grund negieren die Gemeinden, dass es ‹unerwünschte Entwicklungen› gibt», sagt Daniel Kasel.

Vorstoss will weitere Aufweichung

Das Zweitwohnungsgesetz ist seit 2016 in Kraft. Die Gefahr der Zersiede­lung ist gedämmt, nicht aber jene der Verdrängung der einheimischen Bevölke­rung und überhaupt der Schwund von bezahlbarem Wohnraum. In touristischen Destinationen der Schweiz könnten so 32 000 Erstwohnungen umgenutzt und mit hohem Gewinn als Zweitwohnung verkauft werden. In der Bündner Ge­meinde Flims gebe es jährlich 22 solcher «stiller Konversionen» zu Zweitwoh­nungen, kommen die Autor*innen eines Forschungsprojekts der Fachhochschule Graubünden zum Schluss. Das Resultat ist, dass Einheimische keine Wohnung mehr finden. Franziska Preisig schätzt die Zahl noch einiges höher: solche, die vor der Annahme der Initiative gebaut worden sind. Knapp die Hälfte von ihnen ist von Einheimischen bewohnt, während der Rest bereits als Zweitwohnungen ge­nutzt wird. Jetzt gilt es, die verbliebenen gut 200 000 altrechtlichen Wohnungen als Erstwohnungen für die Leute zu retten, die in den Ortschaften arbeiten und ihren Lebensmittelpunkt haben.»

Dass dieses Ziel jetzt auf einen Schlag noch viel dringlicher wurde, hat mit einem Vorstoss in Bundesbern zu tun: Der Bündner Mitte­-Nationalrat Martin Candinas will das ZWG mittels einer par­lamentarischen Initiative weiter aufwei­chen – und er setzt bei den altrechtlichen Wohnungen an: Sie sollen vergrössert, er­weitert, durch neue Wohnungen ersetzt werden können, und das alles gleichzeitig. Dem Abbruch und Neubau altrechtlicher Häuser soll – abgesehen vom Heimat­schutz – nichts mehr im Weg stehen.

Nur eine kleine gesetzliche Anpassung sei dazu nötig, ergänzte der Bündner. Die zuständigen Kommissionen der beiden Räte haben bereits zugestimmt. Der Bun­desrat hat die Gefahr erkannt und ver­langt Einschränkungen: Abriss und Ver­grösserungen von bis zu 30 Prozent sind in Ordnung – falls dabei aber zusätzliche Wohnungen entstehen, dürfen diese nur als Erstwohnung genutzt werden. Das Parlament kann aber immer noch anders entscheiden.

Auf dem Weg zum zweiten St. Moritz

Wir reisen von Graubünden via Ober­alppass in die Innerschweiz, nach Ander­matt. Wo Wohnungen für Einheimische und für Hotelangestellte fehlen. Bänz Simmen betreibt hier den Kiosk 61. Der Einheimische bietet auch Führungen an. Er sagt, schon vor der Ankunft des In­ vestors Samih Sawiris sei es schwierig ge­ wesen, im Ort eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Gemeinde habe es ver­ schlafen, sich weiterzuentwickeln. Die Strukturschwächen seien mit Sawiris’ Ankunft im Dorf entlarvt worden. «Da herrschte anfangs grosse Euphorie – und man ignorierte vieles. Zwar war der offi­zielle Tenor, man wolle kein zweites St. Moritz werden, aber jetzt sind wir auf dem besten Weg dazu.» Auch was das Wohnen betrifft. Es sei ganz einfach so, sagt Bänz Simmen: «Wenn jemand kein Eigenheim hat, kann ers vergessen, hier etwas zu finden.» Auch wer im ehemaligen Elternhaus wohnt, hat spätestens ab deren Tod keine Wohnsicherheit mehr, wenn andere Erben involviert sind – denn die Bodenpreise sind inzwischen so hoch, dass es sich von den Einheimischen kaum noch jemand leisten kann, das Haus aus einer Erbengemeinschaft herauszukaufen.

Bei solchen Bedingungen ist der Anreiz gross, bestehende Wohnungen auszu­bauen und überteuert zu vermieten. Das ausgehöhlte ZWG verbietet das ja nicht. Gleichzeitig bräuchte es im Ort Personal­wohnungen, nicht zuletzt für die Ange­stellten in Sawiris’ Hotels. Auch das sei verschlafen oder ignoriert worden, sagt der Ortskundige – «von Sawiris selber und von der Gemeinde». Manche haben in ehemals 1600 Franken teuren 4-­Zimmer­-Wohnungen ein Zimmer und bezahlen dafür um die 1000 Franken. Ein gutes Ge­schäft für die Vermieter*innen. Ein ille­gales zwar, aber migrantische Menschen können sich nicht so einfach wehren – und warum sollten sie, wenn es beim Wohnen ohnehin keine Alternative gibt?

Im Oberwallis sind die Mieten wegen des Ausbaus der Lonza (vorne im Bild) regelrecht explodiert. (Foto: Keystone/Stefan Bohrer)

Lonza-Boom lässt Mieten explodieren

Die Reise geht weiter via Furka ins Wallis. Hier lautet das Motto ebenfalls: «Der Markt soll es richten», zimmerweise ver­mietete 4­-Zimmer­-Wohnungen sind hier wie in Andermatt Realität. Denn hier boomt das Geschäft der Lonza. In den letzten zwei Jahren hat das Pharma­ und Biotechunternehmen am Standort Visp mehr als 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Selber stellt Lonza Visp keine Wohnungen zur Verfügung, ihre Pen­sionskasse (PKL) sei jedoch Eigentümerin von Mietwohnungen in Visp, die sie «Mitarbeitenden von Lonza und dem breiten Mietmarkt» zur Verfügung stelle, schreibt der Mediensprecher auf Anfrage.

Am 25. Juni 2022 war im «Walliser Boten» zu lesen: «Im Oberwallis ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt ange­spannt. Freie Wohnungen sind rares Gut. Die Mieten sind aufgrund des Lonza-Booms regelrecht explodiert. Die langjäh­rigen Mieter müssen in einer neuen Woh­nung mit Mehrkosten rechnen.» Anlass für den Bericht: In Brig-­Glis war allen Mieter*innen eines Mehrfamilienhauses gekündigt worden. Das Haus gehört aus­gerechnet der Pensionskasse der Staats­angestellten des Kantons, PKWAL. Was in anderen Städten nichts Neues ist, pas­sierte hier zum ersten Mal: Ein 28 Jahre altes Gebäude soll totalsaniert werden und die staatliche Besitzerin, die nach eigenen Angaben über 1000 Wohnungen im Kanton besitzt und vorbildlich agieren sollte, will nicht in der Lage sein, ihren Mieter*innen für die Dauer der Renova­tion einen Ersatz zu beschaffen. Einen der Gründe für die Leerkündigung des Ge­bäudes verriet die PKWAL der lokalen Zei­tung gegenüber freimütig: Es seien auf dem Markt vermehrt kleinere Wohnungen gefragt. So teilt sie die bisherigen Familienwohnungen mit der Renovation in kleinere Einheiten auf. Betroffen sind auch hier langjährige ältere Mieter*innen.

Sozialhilfe-Obergrenze reicht nicht mehr 

Das Oberwallis hat keine eigene Sektion des Mieterinnen­ und Mieterverbandes, auf Missstände beim Wohnen auf­ merksam macht aber auch dort die SP, allen voran Claudia Alpiger, Präsidentin der SP Oberwallis. Weil es im Oberwallis kein einziges Gemeindeparlament gibt, müssen die Genoss*innen andere Mittel und Wege dafür finden. Dieses Jahr lancierten sie zusammen mit weiteren Partnern gleich drei Petitionen für bezahlbares Wohnen: eine für Brig, eine für Visp, die dritte für Naters.

In diesen Gemeinden und in der ganzen Region verschärft sich das Problem. Die Lonza­-Angestellten, die neu in die Region kommen, haben mit ihren guten Löhnen die besseren Chancen als Angestellte auf dem Bau oder bei der Bahn. Am schwierigsten ist die Situation für jene Menschen, die am wenigsten haben und sich am schlechtesten wehren können: die Sozialhilfebeziehenden. Für ihre Miete gibt es eine Obergrenze, die von Gemeinde zu Gemeinde variiert. Uli Truffer, der im Sozialdienst des Kantons Wallis arbeitet und viel Einblick hat, sagt: «Ein Drittel unserer Klientel bezahlt in­zwischen mehr an Miete, als sie von der Sozialhilfe dafür erhält. Das hat zur Folge, dass Betroffenen noch weniger fürs Essen bleibt.» Weil jetzt zusätzlich zum Markt­druck der Referenzzinssatz stark ansteigt, verlangte die SKOS kürzlich – alarmiert durch die steigenden Wohnkosten – verschiedene Massnahmen, auch wohn­ politische. So sei es wichtig, dass güns­tiger Wohnraum günstig bleibe und zu­ sätzlicher entstehe. Was sie nicht schrieb: dass die Entwicklung andernfalls auch die Gemeinden und Kantone teuer zu stehen kommt. Im Oberwallis beispielsweise verliert bereits jede Woche jemand – es kann auch eine ganze Familie sein – die Wohnung, ohne dass eine Anschluss­ lösung vorhanden wäre. Die Behörden haben dann keine andere Möglichkeit, als sie in einem Hotel unterzubringen.

«Leute sehen den Zusammenhang nicht» 

Zurück ins Engadin. Dort hat Selina Nicolay in einem Leserbrief publik gemacht, dass der Jugendarbeiter David Zimmermann sich mangels einer bezahl­baren Wohnung gezwungen sah, das Tal zu verlassen. Sie sagt: «Viele beklagen den Fachkräftemangel und finden, wir müssten Familien ins Tal holen. Aber wohin mit ihnen, wenn es keinen Wohn­raum gibt? Die Leute sehen den Zusam­menhang aber tatsächlich noch immer nicht.» Das hat womöglich auch mit den vielen Grenzgänger*innen zu tun, die über die Pässe pendeln, um in den Ober­engadiner Gemeinden auf dem Bau, in der Gastronomie oder bei den Bergbahnen zu arbeiten. Selina Nicolay hört die Leute oft sagen: «Die Arbeitskräfte kommen ja!» Und natürlich: Wer eine eigene Wohnung teuer vermieten kann, als Erst-­ oder als Ferienwohnung, beklagt sich zuletzt. Die Frage ist nur: Wie lange tut dieses marktorientierte Geschäftsmodell den Gemeinden und der Gesellschaft gut?

Ihr Engagement schweisst sie zusammen

In Zürich verbünden sich die Menschen zunehmend im Widerstand gegen die Verdrängung: Bei der Petitionsübergabe für ihre Häuser erhielten die Mieter*innen der Siedlung Küngenmatt vor kurzem Unterstützung, unter anderem auch von den Mieter*innen in Wollishofen und anderen Quartieren. Foto: Esther Banz

Eine ganze Siedlung mit 39 Wohnungen, in denen auch Familien mit kleinen Kindern leben, steht in Zürich-Wollishofen im Bietverfahren zum Verkauf. Nachbarschaftliche Netze drohen zerrissen zu werden. Auch auf Makler­-Seite gibt es ein Netz – es ist weniger transparent.

Es ist schon dunkel, als sich mehrere Nachbar*innen zu einer Sitzung auf dem asphaltierten Vorplatz der Scheidegg­strasse 112 treffen. Can Deniz kommt mit Block und Stift, für die Traktanden schaut er auf das Display seines Telefons. Kristina Heinzer (ihren Namen haben wir geändert) sagt, sie müsse in einer guten halben Stunde kurz zurück in die Wohnung, um dem 2-­jährigen Kind einen Gutenachtkuss zu geben. Eine weitere Bewohnerin verabschiedet sich bald nach Sitzungsbeginn – ihr Kind ist gerade nach Hause gekommen und gehört ins Bett, der Mann bleibt.

Die Bewohner*innen der Siedlung an der Scheidegg­ und der Kurfirstenstrasse treffen sich, weil die Häuser, in denen sie leben, verkauft werden sollen. Es ist zu diesem Zeitpunkt noch keine Woche her, dass sie ihre Petition lanciert haben. Sie verlangen, dass die Stadt sie und andere Mieter*innen im Kampf gegen die Ver­drängung unterstützt. Und von den beiden Noch-­Eigentümern der sechs Häuser verlangen die Mieter*innen, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und die Häuser an die mitbietende Stadt Zürich, die Stiftung PWG oder an eine andere gemeinnützige Wohnbauträgerin verkaufen – und nicht an eine private Immobilienfirma, die die gut erhaltenen Häuser abreissen und neue hinstellen würde.

Die Eigentümer, das ist ein Brü­derpaar aus Weggis. Can Deniz rechnet vor, was die beiden allein mit den Miet­einzahlungen von ihm und seiner Frau schon verdient haben, Kosten abgezogen: über 300 000 Franken.

Bei den Besichtigungsterminen we­nige Wochen davor beobachteten Deniz, Heinzer und viele weitere Mieter*innen die Kaufinteressierten – und sprachen sie an: «Wer sind Sie? Von welcher Firma?» Einer sei einfach an ihnen vorbeigelaufen, ohne zu grüssen, erzählt Kristina Heinzer: «Nicht einmal angeschaut hat er uns.» Ein Bewohner, dessen Wohnung er für zwei Minuten betrat, konnte ihm den Firmennamen Xania entlocken. «Interessiert hat ihn nur die Aussicht.»

Xania: Kauf, Abriss, Neubau

Der Verdacht hat sich bestätigt – und der Firmenname Xania sorgt unter den Bewohner*innen der Scheidegg­ und der Kurfistenstrasse für grosse Unruhe. Denn in der «Sonntagszeitung» war zu lesen, dass die Immobilienfirma, die eigentlich eine ganze Gruppe ist – es gibt Xania Real Estate, Xania Invest, Xania Sales, Xania Partner und Xania Holding –, bei Käufen regelmässig alle anderen Interessierten überbiete. Wem die Gruppe gehört, ist unklar. Vordergründig läuft alles über Thomas Prajer. Sein Geschäftsmodell: Kauf, Abriss und schliesslich Neubau luxuriöser, grossflächiger Stockwerkeigentumswohnungen.

Xania gibt es erst seit etwas mehr als einem Jahr. Dennoch besitzt oder ver­ marktet die Gruppe bereits über 45 Häuser, die meisten davon in Zürich und rund um den Zürichsee. Es sind Luxus­objekte, die Namen tragen wie «Mull­ berry Hill», «Honey Lane», «High Five», «The Fifteen», «Crystal House» oder «R245». In Zürich­-Witikon ist Xania zurzeit in die Vermarktung künftiger Luxuswoh­nungen involviert. Die beiden Mehrfami­lienhäuser am Glockenacker 65 und 67 sind erst vor wenigen Jahren saniert worden. Für die Kündigungen war Chris­toph M. Steiner mit seiner Firma IT3 zu­ ständig. Steiner ist auch Präsident von SVIT Zürich, des Verbandes der Immobi­lienbewirtschafterinnen und ­Bewirt­schafter. Er ist zudem Schlichter. Als sol­cher vertritt er Hausbesitzer respektive -verwaltungen, wenn sich Mieter*innen beispielsweise gegen eine Kündigung wehren. Steiner arbeitet regelmässig mit Thomas Prajer zusammen und war bis Februar dieses Jahres mit ihm auch im Verwaltungsrat der Bativag AG, die die beiden Häuser in Witikon gekauft hatte. In mehr als einem Fall hat der MV Zürich Einblick in die Art und Weise, wie Steiner mit gekündigten Mieter*innen den Auszug regelte – respektvoll wäre anders.

Die Mieter*innen in Wollishofen hoffen derweil, dass sie nie mit Steiner zu tun haben werden. Sie kämpfen dafür, dass ihre Häuser und die vielfältigen nachbarschaftlichen Netze erhalten bleiben. Ihre Petition ist nicht die erste dieser Art und aktuell auch nicht die einzige: Soeben haben die Bewohner*in­ nen der Küngenmatt im Zürcher Heu­ried-­Quartier ihre Petition dem Zürcher Stadtrat übergeben. Die Siedlung, die einem Credit­-Suisse-­Fonds gehört, um­fasst 108 Wohnungen. Erst 2005 wurden die Häuser saniert, 2019 gab es eine neue Heizung und es wurden Solarpanels ins­talliert. Trotzdem will die CS sie ab­reissen. Vor dem Zürcher Parlamentsge­bäude versammeln sich Ende August gut hundert Personen zur Übergabe an Fi­nanzvorstand Daniel Leupi (Grüne), dabei sind auch Mieter*innen aus der Schei­degg­/Kurfirstenstrasse. «Wollishofen ist auch hier!» ist auf ihrem Plakat zu lesen.

Der Widerstand wächst

In Zürich braut sich etwas zusammen, der Widerstand wird grösser und erhält mediale Beachtung. Das kommt nicht von ungefähr: Der AL-Politiker und uner­müdliche Unterschriftensammler Mischa Schiwow mobilisiert Menschen, Natio­nalrätin Jacqueline Badran (SP) klärt in den grossen Medien auf. Und vernetzte Gruppen wie Mieten-Marta, die Urban Equipe und das Mietenplenum bereiten für Mieter*innen Ressourcen und Wissen auf und geben ihnen Ideen in die Hand, etwa mit dem Buch «Organisiert euch!». Auch die Mieter*innen im Heuried und in Wollishofen konnten auf Unterstüt­zung zählen, insbesondere vonseiten des Mieterinnen­- und Mieterverbands.

Vereinter Widerstand ist nötig, denn der Druck auf die Wohnungen wird nicht so bald nachlassen, auch wenn die Zinsen jetzt wieder steigen. Und das Abreissen von gut erhaltenen Wohnhäusern kommt nicht aus dem Nichts. Jacqueline Badran erklärt es in der «Republik» so: «Wenn meine Immobilie 1 Million Franken wert ist und ich habe daraus Erträge, also Mieteinnahmen, in der Höhe von 50 000 Franken, dann habe ich eine Rendite von 5 Prozent. Wenn nun aber durch die permanente Steigerung des Bodenwerts meine Immobilie plötzlich mit einem Wert von 2 Millionen in den Büchern steht und ich aber immer noch 50 000 Franken Ertrag habe, sinkt meine Rendite auf 2,5 Prozent. Also muss ich schauen, dass ich meine Erträge auf 100 000 ver­dopple, damit ich wieder auf meine 5 Pro­zent komme. Darum reissen so viele Im­mobilieninvestoren bestehende Häuser vorzeitig ab.»

Dass abreissen die Rendite steigert, zeigte ein Team der ETH vor kurzem ein­drücklich in einer Studie auf: Wenn Häuser abgerissen und ersetzt werden, wohnen an derselben Adresse anschlies­send neue Mieter*innen – und deren monatliches Haushaltseinkommen ist durchschnittlich um 3623 Franken höher als das der vorherigen. Beinahe 13 000 Personen mussten zwischen 2014 und 2019 in Zürich wegen eines Abbruchs oder einer Renovation das Haus, in dem sie lebten, verlassen. Betroffen waren Menschen mit sehr viel tieferen monatli­chen Einkommen als das durchschnitt­liche, auch das hat die ETH ausgerechnet – und war selber überrascht ob der krassen Zahlen.

Ein Umdenken bei der Stadt?

In Wollishofen ist die Verdrängung nicht neu. Schon 2009 kündigte in diesem Stadtteil die CS allen Mie­ter*innen ihrer 13 Häuser und 75 Woh­nungen umfassenden «Eschenpark»­ Siedlung. Und schon damals gab es Widerstand gegen die Verdrängung und den Abriss in diesem Quartier, in dem es nur wenige bezahlbare Wohnungen gibt. Mit einer Petition forderten die Betrof­fenen und Verbündete, die Häuser an die Stadt (respektive die Stiftung zum Erhalt preisgünstiger Wohnungen PWG) zu ver­kaufen – und dass die Stadt sich stärker für bezahlbaren Wohnraum engagiere.

Walter Angst vom MV Zürich erinnert sich: «Die Kündigung des Escherparks war ein Fanal. Die Petition – lanciert von einem FDP-Mitglied, das den Quartier­verein präsidierte, und dem MV Zürich – erzeugte grosses Echo. Die damals frisch gewählte Stadtpräsidentin Corine Mauch nahm die Unterschriften aus den Händen von Katharina Bretscher entgegen, der Frau des langjährigen NZZ-Chefredak­tors Willy Bretscher. Corine Mauch be­grüsste das Engagement der Mieter*in­nen – und machte gleichzeitig klar, dass sich der Stadtrat nicht in die Entscheide des Investors einmischen werde.»

Vierzehn Jahre nachdem der Stadtrat an dieser denkwürdigen Übergabe den von Verdrängung betroffenen Mie­ter*innen die Unterstützung verweigerte, sei jetzt ein Umdenken spürbar, sagt Angst: «Am besten zum Ausdruck kommt es in der Unterstützung durch André Odermatt (SP) und Daniel Leupi (Grüne) für die Wohnschutz-­Initiative, die der MV am 18. August lanciert hat.»

Wird die Wohnschutz-Initiative ange­nommen, wird es künftig weniger Anreize geben, gut erhaltene Häuser wie die an der Scheideggstrasse in Wollishofen ein­fach abzureissen und die bestehenden Wohnungen durch neue, teurere zu er­setzen (siehe Kasten). Xania, Bativag und auch der Immobilienbroker Walde wären eingeladen, ihr Geschäftsmodell zu überdenken.

Wohnschutz-Werkzeuge für Zürich
Mitte August hat der MV Zürich zusam­men mit SP, Grünen und der AL die Wohn­schutz-­Initiative lanciert. Sie soll es den Gemeinden im Kanton ermöglichen, die massenhaften Leerkündigungen und Luxus­sanierungen in den Griff zu bekommen und für breite Bevölkerungskreise finanziell tragbaren Wohnraum zu sichern.
Durch die Initiative sollen die Gemeinden ermächtigt werden, Renovationen und Um­bauten, Abbrüche und Ersatzneubauten sowie die Umwandlung von Miet-­ in Eigen­tumswohnungen einer speziellen Bewilli­gungspflicht zu unterstellen.
So können sie im Baubewilligungsverfah­ren für die von baulichen Veränderungen be­troffenen Wohnungen für maximal zehn Jahre Mietzins-­Obergrenzen festsetzen.
Damit entfällt der Anreiz, Mietende auf die Strasse zu stellen, um bei der Neuver­mieteung höhere Renditen zu erzielen.
Gegen unnötige Abbrüche von Mehrfami­lienhäusern gibt es ebenfalls einen Hebel: Wer abreissen will, kann verpflichtet werden, im Ersatzneubau gleich viele bezahlbare Wohnungen zu schaffen, wie es bisher hatte. So wird das rein renditegetriebene Weg­werfen ganzer Häuser unattraktiv.
Die Gemeinden entscheiden autonom,
ob und welche Massnahmen aus dem Wohn­schutz­-Werkkasten sie einführen wollen.
www.wohnraum­schuetzen.ch

Intransparente Firmengeflechte

Walde Immobilien wurde mit der Suche nach einem Käufer für die Häuser in Wollishofen betraut. Ins Rennen kam nur, wer dazu eingeladen worden war. Dass auch Xania zu dieser Gelegenheit kam, obwohl die Firma noch jung ist und schon gut ausgelastet scheint, überrascht nur auf den ersten Blick. Tatsächlich sind Walde und Thomas Prajer bereits Ge­schäftspartner, wie mehreren Projekt­ beschrieben von Xania zu entnehmen ist. Hat Xania einen Vorteil im Bietverfahren? Walde schweigt selbstverständlich. Auch die Eigentümer äussern sich nicht dazu. Sie verweisen an Rechtsanwalt Felix Reichle. Der arbeitet in der Kanzlei FelderSpälti in Zürich. Sein Chef Andreas Felder ist ebenfalls im SVIT-Netzwerk. Ausserdem ist er im Vorstand einer regio­nalen Sektion des Hauseigentümerver­bandes HEV.

Der erfolgreiche Einkäufer Thomas Prajer macht kein Geheimnis daraus, dass er gut vernetzt ist. Bei ihm laufen viele Geld­ und Machtfäden zusammen, und er gründet Immobilienfirmen, wie andere Cumulus­Punkte sammeln. Eine seiner jüngsten: «Domi Living», der einzige an­ dere Verwaltungsrat dort ist der be­ rühmte Lifestyle­Guru Tyler Brûlé.

Intransparente Firmengeflechte, als Partner nicht nur berühmte, sondern im Hintergrund auch unbekannte Investoren – sowie mehr als genug Geld, um bei Immobilienverkäufen alle andern zu überbieten: Hier kommt einiges zu­sammen, was der Bundesrat als heikel er­achtet. Künftig sollen endlich auch in der Schweiz bei Immobilientransaktionen die wirtschaftlich Berechtigten in ein zentrales Register eingetragen werden müssen: Diesen Vorschlag für mehr Transparenz hat die Landesregierung so­eben in die Vernehmlassung geschickt. Finden die gesetzlichen Anpassungen in Bern eine Mehrheit, wird auch das der Verdrängung entgegenwirken.

Engagement schweisst zusammen

Bis dahin sind die Häuser an der Scheideggstrasse aber längst verkauft. Gegenüber der Journalistin sagt die Tochter von einem der Besitzer, man schaue auf die Seriosität der Käufer und nehme Rücksicht auf den Input der Mie­ter*innen. Man strebe eine Lösung an, die für alle stimme. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses ist der Entscheid noch nicht bekannt. Aber eines ist sicher: Ihr Engagement für sich und andere Mie­ter*innen schweisst die Menschen, die in der Siedlung wohnen, noch stärker zusammen.

Nach und nach gehen die Lichter aus hinter den Fenstern. Auf dem Parkplatz diskutiert und plant die Gruppe weiter, bis jemand irgendwann müde sagt: «Jetzt muss aber auch ich ins Bett!»

News

Ein neues Kleid für den MV

Seit September präsentiert sich der Mieterinnen- und Mieterverband im neuen, erstmals schweizweit einheitlichen Erscheinungsbild. Bisher trat der Gesamtverband in den drei Sprachregionen sowie im nationalen Dachverband mit unterschiedlichen Corporate Designs auf. Durch die Vereinheitlichung erhofft sich der Verband eine bessere Wiedererkennbarkeit in der ganzen Schweiz und eine Stärkung der Mieter*innenbewegung.

Herzstück des neuen Auftritts ist das Logo. Es vereint Elemente der bisherigen Logos der drei Sprachregionen zu einem klaren und reduzierten Symbol. Die Bildmarke besteht aus einem oberen Teil, der das Dach symbolisiert und für verlässlichen Schutz steht, und einem unteren Teil, der als Herz gelesen werden kann und die Menschlichkeit, das Persönliche und die kompetente Beratung versinnbildlicht.

Hotline

Fabian Gloor beantwortet Ihre Fragen

Mein Mietvertrag basiert auf einem Referenzzinssatz von 2 %. Nun hat mir meine Vermieterin eine Mietzinserhöhung um 3 % mit der Begründung angezeigt, der Referenzzinssatz sei auf 1,5 % gestiegen. Ich habe keine Lust, jetzt zu streiten, und akzeptiere daher diese Mietzinserhöhung. Aber wenn die Vermieterin bei der nächsten Erhöhung des Referenzzinssatzes die Miete wieder erhöhen sollte, möchte ich die erneute Mietzinserhöhung anfechten. Werde ich mich gegen die zweite Mietzinserhöhung mit Erfolg wehren können?

Die Mietzinserhöhung Ihrer Vermieterin ist offensichtlich nicht gerechtfertigt. Der Mietzins kann aktuell nur dann erhöht werden, wenn er auf einem Referenzzinssatz beruht, der tiefer ist als 1,5 %. Dass Sie keine Lust haben, mit Ihrer Vermieterin zu streiten, ist zwar verständlich. Es besteht allerdings das Risiko, dass Sie bei einer weiteren Mietzinserhöhung allfällige Senkungsansprüche, die sie aktuell wohl haben, nicht mehr geltend machen können, da man immer auf die letzte verbindliche Mietzinsfestlegung abstellt und auch auf diese zurückrechnen darf. Als letzte verbindliche Mietzinsfestlegung gilt die letzte Mietzinserhöhung oder, wenn der Mietzins seit Mietbeginn noch nie verändert worden ist, diejenige des Mietvertrags. Senkungen sind grundsätzlich nicht verbindlich. Die Ausgangsbasis für die Überprüfung einer zweiten Erhöhung wird also diese aktuelle Mietzinserhöhung sein. Allfällige Senkungsansprüche können bei der Anfechtung der zweiten Mietzinserhöhung nicht mehr korrigiert respektive gegengerechnet werden. Dieser Problematik wurde in den bisherigen zahlreichen Diskussionen in den Medien viel zu wenig Beachtung geschenkt. Es besteht deshalb die Gefahr, dass jetzt etliche Mieter*innen – wie Sie – um des Friedens willen auf eine Anfechtung verzichten, bei der nächsten Erhöhungsrunde aber die Geduld verlieren und dann allenfalls eine böse Überraschung erleben. Deshalb sollten Sie bereits die aktuelle Mietzinserhöhung bei der Schlichtungsbehörde anfechten. Handeln Sie schnell, denn die Anfechtungsfrist beträgt nur 30 Tage ab Erhalt der Erhöhungsanzeige.


Ich habe vor einer Woche einen neuen Mietvertrag abgeschlossen. Der Mietvertrag ist erstmals per Ende Juli 2024 kündbar. Um auf allfällige Erhöhungen des Referenzzinssatzes reagieren zu können, hat mein Vermieter folgende Klausel in den Mietvertrag geschrieben: «Der Mietzins basiert auf dem aktuellen Referenzzinssatz von 1,5 %, Anpassungen des Mietzinses erfolgen unabhängig von der Mindestmietdauer.» Ist diese Bestimmung rechtens?

Nein, eine solche Klausel ist nicht rechtens. Gemäss Artikel 269d des Obligationenrechts kann die Vermieterschaft den Mietzins nur auf den «nächstmöglichen Kündigungstermin» erhöhen. Diese Bestimmung ist zwingend und kann auch vertraglich nicht abgeändert werden. Wurde im Mietvertrag eine Mindestmietdauer vereinbart, dann kann der Mietzins auch erst auf diesen Termin erhöht werden. In Ihrem Fall darf die Vermieterschaft den Mietzins folglich erst auf den 1. August erhöhen. Dies natürlich nur, sofern der Referenzzinssatz oder die übrigen Faktoren wie die Teuerung und die allgemeinen Kostensteigerungen tatsächlich weiter ansteigen. Sollte Ihr Vermieter dennoch versuchen, den Mietzins bereits vor dem 1. August zu erhöhen, dann sollten Sie diese Erhöhung vorsichtshalber trotzdem innerhalb der 30-tägigen Frist anfechten.

Gutes Licht für trübe Tage

Foto: 123rf

Wenn die Tage kürzer werden, ist gutes Licht in Küche, Wohnzimmer oder am Arbeitsplatz wieder ein zentrales Thema. Welche Leuchten und Lampen sind sinnvoll?

Rund 6 Prozent des Stromverbrauchs in Schweizer Haushalten entfallen auf die Beleuchtung. Das Einsparpotenzial ist nach wie vor gross, denn immer noch sind viele alte, ineffiziente Leuchten im Einsatz. Einiges hat sich zwar in den letzten Jahren bereits bewegt: Effiziente LED-Leuchten und -Leuchtmittel sind stark im Vormarsch. Fachläden bieten heute praktisch nur noch Leuchten und Lampen in LED-Qualität an. Sie brauchen viel weniger Strom und sind viel langlebiger als die alten Glühbirnen und Halogenlampen. LED ist die Abkürzung für «Licht emittierende Dioden».

Wahl der Leuchte

Worauf ist beim Kauf oder beim Ersatz von Wohnleuchten vor allem zu achten? «Wir sollten nicht einfach eine Leuchte» kaufen, die uns ästhetisch gerade anspricht», warnt Nadja Gross von Topten, «vielmehr sollte sie ein spezifisches Bedürfnis abdecken.» Soll sie Atmosphäre schaffen, etwa dimmbar sein, oder verschiedene Lichtfarben und Effekte bewirken? Soll es eine Leuchte mit fix eingebautem LED-Modul oder mit einer austauschbaren LED-Lampe sein? Schnell ist man von so vielen Fragen überfordert. Unter www.topten.ch/wohnleuchten sind diverse Kriterien und Tipps aufgeführt.

Wir unterscheiden folgende Typen von Leuchten: Deckenleuchten und Pendelleuchten (diese hängen von der Decke), Stehleuchten (umgangssprachlich: «Ständerlampen»), Wandleuchten und Spots. Alle haben ihre Vorteile und Nachteile: Während beispielsweise Deckenleuchten, Wandleuchten und Spots fix an einem Ort montiert sind, kann man Stehleuchten einfach umplatzieren. Spots lassen sich in der Regel unterschiedlich ausrichten und können einen Bereich heller ausleuchten, eine Arbeitsfläche in der Küche etwa oder ein Bild. Wandleuchten setzen Raumakzente und verbreiten eine angenehme Stimmung. Tischleuchten helfen bei ganz spezifischen Bedürfnissen wie etwa beim Lesen oder Nähen.

Halogenlampe ersetzen oder neue Leuchte kaufen?

Wie aber steht es mit den Lampen, also den Leuchtmitteln? In vielen Haushalten sind immer noch alte, stromfressende Halogenlampen im Einsatz. Seit 2018 gilt ein Halogenlampenverbot in der Schweiz. Der Ersatz einer Halogenlampe durch eine LED-Lampe ist oft die kostengünstigere Lösung, als gleich eine neue LED-Leuchte zu kaufen. Doch man achte auf die Grösse des neuen LED-Leuchtmittels, darauf, ob es auch in die alte Leuchte passt und nicht vorsteht oder anstösst. Bei Unsicherheit mit der Halogenlampe ins Fachgeschäft gehen und nach dem richtigen und effizientesten Ersatz fragen. Ein weiterer Punkt: Es ist möglich, dass die Lichtverteilung mit einer LED-Lampe anders wirkt, weil LED-Lampen anders abstrahlen. Technische Angaben zu den zehn wichtigsten LED-Lampen (Fassung, Leuchtkraft, Produkteliste, Kaufpreis etc.) finden sich unter www.topten.ch/led.

Tücken beim Ersatz

Wenn nur das Leuchtmittel ersetzt wird, kann ein weiteres Problem auftauchen: Der Transformator der Halogenleuchte kann zum Flackern der neuen LED-Lampen führen. Abhilfe schaffen hier dimmbare LED-Lampen von guter Qualität; diese ertragen mehr Spannungsschwankungen. Bei allen diesen Punkten soll man sich stets absichern, ob eine Rückgabe der neu gekauften LED-Lampen möglich ist, falls dann zuhause doch etwas nicht klappt. In diesem Fall kann man sich immer noch für den Kauf einer neuen LED-Leuchte entscheiden. Gut zu wissen: Anders als früher bei der Glühbirne gibt der Lichtstrahl einer LED-Lampe keine Wärme ab.

Entsorgung und Energieetikette

LED-Lampen enthalten elektronische Bauteile, aber kein giftiges Quecksilber wie die alten Energie-Sparlampen und Leuchtstoffröhren. Sie müssen wie anderer Elektroschrott (Computer, Radio etc.) zum Recycling ins Geschäft zurückgebracht werden. Die Verkaufsstellen sind zur kostenlosen Rücknahme verpflichtet. Die Energieetikette zeigt eine Einteilung der Lampen in sieben Klassen der Energieeffizienz. Dabei steht neu A für «sehr effizient» und G für «wenig effizient». Zudem wird der Stromverbrauch pro Jahr angegeben (Kilowattstunde kWh pro 1000 Stunden).

Förderprogramm für EKZ-Kund*innen
Kund*innen der EKZ (Elektrizitätswerke Kanton Zürich) erhalten beim Kauf einer effizienten Wohnleuchte vom 1.10.–31.12.23 einen Förderbeitrag von 25 % des Nettokaufpreises (maximal 300 Franken pro Leuchte). Weitere Infos unter www.topten.ch/ekz.

Autor: Stefan Hartmann, Topten

Editorial

Andrea Bauer, Verantwortliche Redaktorin

Dass ganze Siedlungen leergekündigt werden, damit nach einer Sanierung die Wohnungen teurer vermietet werden können, ist zumindest in städtischen Umgebungen zur Normalität geworden. Wer in einer älteren, günstigen Wohnung wohnt, muss schon fast damit rechnen, dass eines Tages eine Kündigung ins Haus flattert. Wie aber gehen Menschen damit um, wenn sie ihre Wohnung verlieren? Dieser Frage geht die Studie «Entmietet und verdrängt» nach, die vor kurzem erschienen ist. Esther Banz hat für uns mit Miriam Meuth und Christian Reutlinger gesprochen, die die Studie geleitet haben. 

Besonders wer lange Zeit in einer Wohnung gelebt hat, hat nach einer Kündigung oft Mühe, eine bezahlbare Wohnung zu finden, denn die Neumieten sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv angestiegen. Das Problem ist, dass viele der Mieten heute nicht mehr den Kosten entsprechen, welche die Eigentümerschaft tatsächlich hat, sondern der Rendite, die sie mit ihr erzielen will. Die Kostenmiete ist schleichend durch eine Marktmiete ersetzt worden. 

Um diese Entwicklung zu stoppen, haben die Delegierten an der Generalversammlung in Biel die Lancierung einer Initiative beschlossen. Sie soll zwei Elemente enthalten: die Verankerung der Kostenmiete in der Verfassung und die Einführung einer Mietzinskontrolle. Das eine soll verhindern, dass neue Mietzinse zu hoch sind, das andere dazu führen, dass bestehende zu hohe Mieten gesenkt werden müssen. 

Im nächsten Jahr können Sie also selber aktiv werden gegen zu hohe Mieten, indem Sie die Initiative unterschreiben und weitere Unterschriften sammeln. Und sollten Sie selber wegen des gestiegenen Referenzzinses erst kürzlich eine Mietzinserhöhung erhalten haben: Überprüfen Sie sie unbedingt mit unserem Mietzinsrechner. Allein im Monat Juni war jede zweite der rund 40 000 überprüften Erhöhungen mutmasslich zu hoch. 

Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre und einen schönen Sommer! 

Andrea Bauer 

 «Die Unsicherheit wird zur Normalität»

Foto: Reto Schlatter

Immer mehr Menschen werden in der Schweiz «entmietet» – sie verlieren ihre Wohnungen, ohne dass sie sich etwas zuschulden kommen liessen. Forschende haben bei Betroffenen gut hingehört.

Zunehmend machen Menschen die Erfahrung, dass eines ihrer existenziellen Bedürfnisse nicht mehr anerkannt und respektiert wird: das des sicheren Wohnens. Mit Miriam Meuth und Christian Reutlinger hat sich ein Team von Sozialwissenschaftler*innen inmitten der zunehmenden Verdichtungs- und «Aufwertungs»-Dynamik in den Städten dieser Form direkter Verdrängung angenommen, mit Fokus auf die Betroffenen. Herausgekommen ist eine Studie, die jetzt als Buch (open access als E-Book) erschienen ist und eindringlich aufzeigt, wie problematisch die Praxis des «Entmietens» ist – auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. M+W hat Miriam Meuth in Zürich zum Gespräch getroffen, ihr Kollege schaltete sich digital dazu.  

M+W: Miriam Meuth und Christian Reutlinger: Was ist den Menschen widerfahren, mit denen Sie und Ihre Kolleg*innen gesprochen haben? 

Meuth: Es sind Mieter*innen, die ihre Wohnungen verlassen mussten, obwohl sie stets alle Vertragskonditionen eingehalten haben. Sie haben auch immer anständig die Miete bezahlt. 

Das passiert immer öfter – Immobilienbesitzer kündigen, um ihren Profit zu steigern. Den Betroffenen sagen sie, Veränderungen gehörten nun mal zum Leben, man solle offen dafür sein. Was bedeutet eine solche Kündigung für die Betroffenen? 

Meuth: Eine Kündigung hat massive Konsequenzen. Sie zeigt sich in unseren Beispielen als Verdrängung aus der Wohnung und in vielen Fällen auch als Verdrängung aus dem bisherigen Quartier. Die Betroffenen sind gezwungen, eine neue Wohnung zu suchen. Ungeachtet dessen, wo sie im Leben gerade stehen, kommt eine enorme zusätzliche Belastung auf sie zu. Und sie werden ziemlich sicher keine Wohnung zum bisherigen Mietpreis finden. Das alles ist schon dramatisch genug. Das haben auch die Mieter*innen erfahren, die wir interviewt haben. Hinzu kommt die Art und Weise, wie mit ihnen seitens der Eigentümer*innen umgegangen wird. 

Miriam Meuth (Dr. phil.) ist Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Departement für Soziale Arbeit und Programmleitung des MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung. Ihre Schwerpunkte sind prekäres und institutionelles Wohnen, das Verhältnis von Wohnen und Sozialer Arbeit, Verdrängung/Gentrifizierung, Partizipation und Ausschluss in der Stadtentwicklung. (Bild: Reto Schlatter)
Christian Reutlinger (Dr. phil. habil.) leitet das Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind sozialräumliche Wohnforschung, internationale Ansätze zu Communitys und Nachbarschaften sowie Studien zur (Re-)Figuration öffentlicher Räume. (Bild: zVg)

Wie würden Sie den Umgang insgesamt bezeichnen? 

Meuth: Als kalt. Besonders bei Häusern, die renditeorientierten institutionellen Investor*innen gehörten, fühlten sich die gekündigten Mieter*innen unwürdig behandelt. Ihre Werte und Normen eines menschlichen Umgangs miteinander wurden nicht beachtet. Das macht das Ganze noch brutaler. Daran arbeiten sich die Betroffenen oft für lange Zeit ab. 

Reutlinger: Es ist ja ein bewusster Entscheid der Besitzer*in, der zu diesem Einschnitt führt, der eine*n Mieter*in wie eine Katastrophe trifft. Als Mieter*in fühlt man sich ausgeliefert. Man hat den Eindruck, nichts dagegen tun zu können. Zu behaupten, diese aufgezwungene einschneidende Veränderung sei unvermeidlich und das Unvermeidliche sei auch eine Chance für die Betroffenen, hat etwas Verlogenes und ist entsprechend perfide. 

Meuth: In einem von uns untersuchten Fallbeispiel wurde Bewohner*innen eines Hauses, die teils über 40 Jahre da gelebt hatten, mit einer nur dreimonatigen Frist gekündigt, und zwar auf Ende Dezember. In einem Brief, der später im Treppenhaus ausgehängt war, stand zum Schluss: «Und wir wünschen Ihnen fröhliche Weihnachten!» 

Warum erkennen diejenigen, die solche Floskeln schreiben, nicht, wie zynisch dies in den Ohren der Mieter*innen klingt? 

Meuth: Das hat wohl damit zu tun, dass die Blickwinkel der Betroffenen und der Verursachenden der Katastrophe völlig aneinander vorbeigehen. Ein Beispiel dazu aus einer Siedlung, die wir beforscht haben, sie gehört zu den Immo- bilienanlagen einer Grossbank: Der Vertreter versprach im Gespräch eine «sozialverträgliche Kündigungsprozedur». Seine Absicht und auch sein Verständnis von «sozialverträglich» hatten aber nichts mit dem zu tun, was für die Betroffenen in dem Prozess zentral war oder wenigstens verträglich mit ihren Bedürfnissen. 

Reutlinger: Die Perspektiven könnten unterschiedlicher nicht sein. 

Was bedeutet Wohnen eigentlich alles? 

Meuth: Viel mehr als das sprichwörtliche Dach über dem Kopf. Es beinhaltet beispielsweise auch Zugang zu Wasser und Einbettung in ein Quartier. Wichtig ist auch: Was individuell, aber auch gesellschaftlich unter Wohnen verstanden wird, ist kulturgeschichtlich gewachsen und gesellschaftlich normiert – so ist die Wohnung in unseren Breitengraden als privater Ort konnotiert und das Wohnen ist zum Beispiel mit bestimmten Hygiene- oder Familienvorstellungen verbunden. 

Reutlinger: Wir trafen auch immer wieder auf das Bild des Wurzelnschlagens und des gemeinsamen Wachsens. Die «Entwurzelung» durch die Kündigung bringt auf den Punkt, wie Menschen mit einem Ort – mit einer Siedlung, einem Haus, einer Wohnung – verflochten sind. Entsprechend ist das Wohnen stark mit Lebensphasen und -ereignissen verbunden: Man durchlebt die Phase des Jungseins in der Siedlung, des Kontakteknüpfens in der Nachbarschaft, des Kinderkriegens und -grossziehens oder des Altwerdens. 

Bewohner*innen prägen ein Quartier stark … 

Meuth: … und sie tragen zu seinem Wert bei. Eine Frau beschrieb uns minuziös, wie sie in das Quartier gezogen war. Es war die Zeit der offenen Drogenszene. Sie sammelte rund ums Haus Spritzen ein. Ihre Geschichte zum Ort schliesst sie so ab: «Wir haben an unserem eigenen Ast gesägt. Wir haben hier Strukturen geschaffen, die das Quartier lebenswert machten. Wir waren Teil des Aufwertungsprozesses, der uns den Kragen gekostet hat.» Das ist die Pointe. 

Das ist bitter. Mir geht in diesem Zusammenhang durch den Kopf: Verdrängt werden ist etwas, das ausschliesslich Mieter*innen passieren kann – es sei denn, sie wohnen in einer Genossenschaft. Wer ein eigenes Haus hat, braucht sich sowieso nicht zu fürchten. Sind alle Mieter*innen gleichermassen von Verdrängung betroffen? 

Meuth: Von einer sozialen und emotionalen Perspektive her grundsätzlich ja, egal welches Einkommen und welchen Bildungsstatus jemand hat. Etwas, das alle Betroffenen in den Beispielen kurzfristiger Kündigungen sagten, war: «Gekündigt zu werden ist ein dramatischer Einschnitt.» Dann gibt es aber einen grossen Unterschied: Wer mehr Ressourcen hat, kann sich schneller neue Möglichkeiten erschaffen, vielleicht sogar etwas Eigenes in der Umgebung leisten. Die anderen haben Abstiegsängste – und die sind real. Ganz einfach weil man für den bisherigen Mietpreis in der Umgebung ausser mit sehr viel Glück keine vergleichbar gute Wohnung mehr findet. Viele sind nach einer Kündigung gezwungen wegzuziehen. 

Wie gehen Menschen damit um, wenn sie im Zuge baulicher Verdichtung ihre Wohnung verlieren? Dieser Frage ging ab 2017 ein Forschungsteam um Miriam Meuth und Christian Reutlinger systematisch nach. Die Wissenschaftler*innen konnten damals noch nicht wissen, welche Dynamik das Abreissen ganzer Häuser und Siedlungen noch annehmen würde. Die qualitative Studie wurde vom Nationalfonds unterstützt und ist soeben erschienen. Die Forscher*innen arbeiteten unter anderem mit erzählgenerierenden Interviews und führten Gespräche mit Expert*innen. «Entmietet und verdrängt» erweitert und bereichert die Gentrifizierungsforschung und macht verständlich, von welcher auch gesellschaftspolitischen Bedeutung die zunehmende, renditegetriebene Verdrängung ist. Die Studie erscheint keinen Tag zu früh als Buch und frei zugänglich auch als E-Book

 

Sie beschreiben in der Studie auch eine «brüchige Solidarität» unter Gekündigten. Warum hilft man sich gegenseitig nur beschränkt in dieser Not? 

Reutlinger: Gerade in Häusern und Siedlungen, in denen viele Menschen «entmietet» werden, befindet man sich bei der Wohnungssuche in einer starken Konkurrenzsituation. 

Meuth: Es ist nicht so, dass die Personen an sich unsolidarisch sind. Vielmehr erzeugen Taktik und Strategie der Eigentümerschaften – etwa zeitlicher Druck oder vorenthaltenes Wissen – sowie die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt bei den einzelnen Personen Druck. Es entsteht eine Konkurrenzsituation, die dazu führt, dass alle erst mal ihre eigene Situation lösen müssen. Sich solidarisieren und gemeinsam vorgehen, auch öffentlich aktiv werden: Das können sich eher diejenigen leisten, die über ausreichend finanzielle und soziale Ressourcen verfügen. 

Aufgrund der fortschreitenden Verdrängung muss man sich bereits fragen, wie Pflegende oder andere in systemrelevanten Berufen je wieder eine Wohnung finden sollen in der Stadt. Eine, die ihnen auch bei Schichtarbeit die ÖV-Nutzung erlaubt. 

Reutlinger: Es geht zunehmend ums Eingemachte: Immer mehr Personen sind betroffen, die Mehrheit im Dienstleistungssektor. Leute, die fürs Funktionieren des Systems wichtig sind, erhalten keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Es ist auch ganz wichtig, dass jetzt erkannt wird: Die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum hat sehr zentral mit sozialer Nachhaltigkeit zu tun. Also auch mit der Frage, wie inklusiv und gerecht sich die Zukunft unserer Gesellschaft entwickeln wird. 

Lange Zeit galt das Wohnen zur Miete als sicher, sofern nicht Eigenbedarf drohte. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn für immer mehr Menschen Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit brüchig werden? 

Meuth: Irgendwann knallt es. Seit wir mit der Arbeit für diese Studie angefangen haben, nahmen Leerkündigungen massiv zu – inzwischen auch die Kritik an dieser Entwicklung. Da läuft etwas, es gibt zunehmend Bewegung aus der Zivilgesellschaft, auch Bottom-up-Initiativen wie etwa die Initiative «CS-Immobilien enteignen.» Die Leute gehen wieder vermehrt für das Recht auf Wohnen auf die Strasse; wenn auch in der Schweiz immer noch eher verhalten im Vergleich zu Deutschland etwa. 

Reutlinger: Wir leben in der Schweiz ja in einer top abgesicherten Gesellschaft. Nun aber wird beim Grundbedürfnis nach Wohnraum die Unsicherheit zur Normalität. Und ganz offiziell heisst es sogar, dass Wohnen – in der Stadt, am bisherigen Ort – nicht mehr für alle gewährleistet ist. Hier werden neue Spaltungen deutlich, Prozesse des Ausschliessens. Was das mit dem Selbstverständnis der Schweiz als sicheres Land macht, werden wir erst sehen. Man muss aber anfangen, das anzuschauen und zu diskutieren. 

Meuth: Wir sehen auch über eine historische Betrachtung, dass Wohnungsnot erst dann zum grossen Thema wird, wenn die Mittelschicht betroffen ist. Üble Wohnverhältnisse und Wohnungslosigkeit gibt es für einen Teil der Bevölkerung aber immer, man denke an Geflüchtete und Sans-Papiers. Ich finde es wichtig, dass systematisch und dauerhaft über das Wohnen gesprochen wird – politisch wie auch in der Wissenschaft. 

Reutlinger: … und dass die Betroffenen einbezogen werden! Am runden Tisch, den Bundesrat Guy Parmelin kürzlich einberufen hat, fehlten fast gänzlich Vertreter*innen aus der Sozialen Arbeit. 

Ich möchte gerne noch auf den Begriff des «Entmietens» zu sprechen kommen. Sie weisen in der Studie darauf hin: Er ist problematisch. Warum? 

Reutlinger: Wir haben in dem Begriff eine Fokusverschiebung – vom Objekt, der Wohnung, hin zu den Menschen. Konkret: Wer aus der vermieteten Wohnung mehr Rendite herausholen will, hat ein «Problem» – er muss sein Objekt von den Menschen befreien. Das hiess traditionell: Man «entmietete» das Wohnhaus – heute werden Menschen «entmietet». Es war spannend, diese Verschiebung zu beobachten. 

Meuth: Aktuell wird der Begriff der «Entmietung» von Immobilienunternehmen wie selbstverständlich verwendet. Tatsächlich wurde er bereits im Nationalsozialismus im Rahmen eines «Entmietungsgesetzes» – eines Gesetzes über Mietverhältnisse mit jüdischen Personen – verwendet. Wir sprechen deshalb auch nicht von Entmieten als einem analytischen Begriff, sondern beziehen uns auf den Sprachgebrauch einiger der Interviewten, die ihre passive Rolle im Prozess des Entmietetwerdens betonen. Brutal ist, dass die Kritik seitens der Betroffenen nicht an die Verursacher*innen adressiert werden kann, weil sich die Eigentümer*innen oft hinter den Verwaltungen verstecken und für die Mieter*innen nicht greifbar sind. 

Genau, diejenigen, die entscheiden, sitzen ja weit weg vom Geschehen, quasi in Deckung, während Immobilienbewirtschafter*innen «an die Front» gegen Mieter*innen geschickt werden. Das erinnert an Krieg. 

Meuth: Tatsächlich werden Menschen für diese Leerkündigungs-Arbeit innerhalb von Verwaltungen gewissermassen genutzt. Sie fungieren als Prellbock. Es sind oft junge Berufseinsteiger*innen, die richtiggehend verheizt werden. Für Mieter*innen ist diese Strategie ein Teil dessen, was das Gefühl des «Entmietetwerdens» ausmacht. 

Als Rezept gegen die Wohnungsnot führen Immobilienvertreter*innen stets an, es müsse mehr gebaut werden und dazu brauche es weniger strenge Regeln. Was sagen Sie dazu? 

Meuth: Bauen allein reicht nicht aus. Damit das raumplanerisch sinnvolle Ziel der Innenentwicklung sozial und ökologisch nachhaltig umgesetzt werden kann, was dringend geboten ist, braucht es auf Bundes- und Kantonsebene sozialwohnpolitische Vorgaben und eine Stärkung des Mietrechts für solche Fälle von Sanierungen und Ersatzneubauten. Auf Gemeinde- und Einzelfallebene alleine kann das nicht gelöst werden. 

Gespräch: Esther Banz

Neue Initiative gegen zu hohe Mieten 

Die Generalversammlung in Biel stand im Zeichen der steigenden Mieten und der Angriffe der Immobilien-Lobby auf das Mietrecht. Die Delegierten beschlossen die Lancierung einer neuen Initiative. 

Präsident Carlo Sommaruga eröffnete die Generalversammlung (GV) mit einer Rückschau auf das letzte Verbandsjahr. Es sei ein Jahr gewesen, in dem die Kaufkraft der Mieter*innen stark angegriffen wurde. Nicht mehr nur Geringverdienende, sondern auch der Mittelstand sei von den massiven Kostensteigerungen – insbesondere wegen der Energiepreise und des gestiegenen Referenzzinses – betroffen, so Sommaruga. Sämtliche Vorschläge, die der Mieterinnen- und Mieterverband im letzten Jahr zur Entlastung der Haushalte gemacht hatte, seien jedoch von Bundesrat und Parlament abgelehnt worden. Und nicht nur das: Trotz der angespannten Situation führe die Immobilienlobby im Parlament ihren Angriff auf das Mietrecht fort, sodass der Verband in den nächsten Monaten voraussichtlich gegen vier Vorlagen das Referendum werde ergreifen müssen. 

«Neben dem defensiven Engagement des Verbandes in Form von Referenden braucht es auch ein offensives Engagement», so Sommaruga. Die zunehmende Finanzialisierung des Wohnungswesens habe die Wohnung zu einem Anlagevehikel gemacht, zu einer Ware, deren Preis nicht mehr nach dem Wert, sondern nach den Renditeerfordernissen des Immobilienkapitalmarktes festgelegt werde. Die schrittweise Abschaffung der Kostenmiete zugunsten einer Marktmiete in den letzten 30 Jahren bringe dies sehr deutlich zum Ausdruck. Mithilfe einer Initiative solle eine staatliche Mietzinskontrolle eingeführt und die schleichend eingeführte Marktlogik im Mietsektor durchbrochen werden. 

MV-Generalsekretärin Linda Rosenkranz präsentierte im Anschluss an die Rede von Sommaruga eine Gesamtschau über die anstehenden Kampagnen: Die Referenden und die Initiative sollen in einer einzigen Gesamtkampagne zusammengeführt werden. Die Delegierten beschlossen dafür eine Aufstockung des Generalsekretariats, insbesondere um eine Stelle, die das Online-Campaigning und -Fundraising verstärken soll. 

Neue Initiative gegen hohe Mieten 

Zur Stossrichtung der neuen Initiative des Verbands fand eine lebhafte Diskussion unter den Delegierten statt. Der Vorstand hatte im Vorfeld zwei inhaltliche Elemente vorgeschlagen: Einerseits die Verankerung der Kostenmiete und damit eine Deckelung der Renditen in der Verfassung. Anderseits die Einführung einer regelmässigen und automatischen Kontrolle der Mietzinse. Mit diesen beiden Elementen könne nachhaltig gegen zu hohe Mieten vorgegangen werden, erklärte Vorstandsmitglied und Nationalrat Christian Dandrès: Eine im Gesetz verankerte Kostenmiete verhindere zu hohe Mietzinse bei Neuvermietungen, und mithilfe der Mietzinskontrolle könnten bereits bestehende zu hohe Mieten gesenkt werden. 

Nationalrätin Jacqueline Badran, ebenfalls Vorstandsmitglied, sagte in ihrem Votum, es sei nicht die Zeit für Bedenken und Ängste, der MV befinde sich im Notwehr-Modus. De facto hätten die Hauseigentümer*innen schleichend eine Marktmiete eingeführt, das sei inakzeptabel. Die Konsequenzen seien, dass die Mieter*innen jedes Jahr 10,5 Milliarden Franken zu viel bezahlten. Auch das Bundesgericht sei nicht mehr auf der Seite der Mieter*innen und der parlamentarische Weg sei verschlossen. Darum sei jetzt die Zeit für eine Initiative. «Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt!», appellierte Badran an die Delegierten. Diese folgten schliesslich den Anträgen des Vorstands. Der genaue Wortlaut der Initiative wird nun ausgearbeitet. 

Analyse von BWO-Chef Martin Tschirren 

Gastreferent an der diesjährigen GV war Martin Tschirren, Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO). Auch Tschirren ging in seiner Rede auf die angespannte Situation der Mieter*innen ein. Sein Bundesamt spreche jedoch noch nicht von einer Wohnungsnot, sondern davon, «dass wir uns in Richtung einer Wohnungsknappheit bewegen». Allerdings seien die Perspektiven nicht rosig, bald könnten tatsächlich ähnliche Zustände herrschen wie Anfang der 90er-Jahre. Die Situation sei sehr dynamisch, der Rückgang der Leerwohnungsziffer erfolge sehr schnell. Das Problem sei, dass sich Angebot und Nachfrage bei den Wohnungen stark auseinanderentwickelten, so Tschirren. Pro Jahr würden wegen der Zuwanderung und Haushaltverkleinerungen 50 000 bis 55 000 neue Haushalte benötigt. Die Bautätigkeit sei in den letzten Jahren aber stark zurückgegangen: 2018 seien noch 53 000 neue Haushaltungen entstanden, seither sei die Zahl um 20 %, diejenige der Baubewilligungen um 28 % gesunken. Worin die Gründe für diesen Rückgang liegen, ist gemäss Tschirren nicht eindeutig feststellbar. 

Zum Schluss seiner Rede ging Tschirren auf den «Runden Tisch zur Wohnungsknappheit» ein, den Bundesrat Guy Parmelin im Mai einberufen hatte. Unter den Teilnehmenden habe ein Konsens darüber geherrscht, dass Handlungsbedarf bestehe. Verschiedene Lösungsansätze etwa zur Umsetzung der Verdichtung, zu einer Beschleunigung der Verfahren oder einer Verstärkung des preisgünstigen Wohnungsbaus würden nun geprüft. Eine Arbeitsgruppe aus staatlichen Akteuren sei daran, einen Aktionsplan auszuarbeiten. Dieser werde im vierten Quartal 2023 diskutiert, und Anfang 2024 werde ein zweiter runder Tisch einberufen. 

Mehr Mitglieder, neues Vorstandsmitglied 

Verbandspolitisch erfreulich ist das erneute Mitgliederwachstum im vergangenen Jahr. Ende 2022 zählte der MV schweizweit rund 228 000 Mitglieder. Angesichts der angespannten Lage auf dem Mietwohnungsmarkt seien die Dienstleistungen der Sektionen nach wie vor sehr gefragt, sagte Vizepräsident und Nationalrat Michael Töngi. Insbesondere die Rechtsberatungen seien für viele Mitglieder wichtig, um sich im Konfliktfall wehren zu können. Im Moment gebe es besonders viele Anfragen im Zusammenhang mit dem gestiegenen Referenzzinssatz. 

An der GV wurde ausserdem Walter Angst, Co-Geschäftsleiter des MV Zürich, neu in den Vorstand gewählt. Er ersetzt den zurückgetretenen Peter Zahradnik.