Verdrängung in den Bergen

In Andermatt fehlen Wohnungen für Einheimische und Hotelangestellte. Foto: Keystone/Stefan Bohrer

Auch im Alpenbogen wird es zunehmend schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Eine aktuelle parlamentarische Initiative könnte die Lage gar noch verschlimmern. Eine Reise von Graubünden via Andermatt ins Wallis.

Ziemlich genau am Tag, an dem dieses Heft im Briefkasten liegt, hilft Daniel Kasel seiner Mutter beim Zügeln. Die Pensionärin aus dem Oberengadin «kommt im Puschlav unter», schreibt der Architekt, «dort gibt es noch zahlbaren Wohnraum». Seine Mutter wohnte in der ChesaFaratscha in Celerina. Den Bewoh­ ner*innen teilte die Besitzerin «Neue Haus AG» letztes Jahr mit, sie wolle aus den bisher 22 Wohnungen 14 Einheiten «im absoluten High-­End­-Segment» machen, wie die «Engadiner Post» und weitere Medien berichteten. Aktuell ist das Projektgestoppt, weil Helvetia Nostra (die zur Fondation Franz Weber gehö­rende Stiftung) die Baubewilligung anficht. Aber das Haus steht bereits leer, die letzten Mietparteien ziehen Ende Sep­tember aus, dies nachdem sie die vergan­genen Monate hinter Gerüst gewohnt haben. Von den älteren Mieter*innen hat niemand eine bezahlbare Wohnung im Oberengadin gefunden, weiss Daniel Kasel: «Alle Pensionäre mussten das Tal verlassen.» Sie müssen sich weit entfernt vom bisherigen Zuhause und ihrem nach­barschaftlichen Netz neu zurechtfinden – die einen im Bergell, andere im Puschlav oder rund um Chur, ein Paar ist ins Appenzellische gezogen. Zwei von ihnen hatten zeitlebens im Oberengadin für die Post gearbeitet – und der Post gehörte das Haus einst auch. Bis es schliesslich via Pensionskassen zur «Neue Haus AG» kam, die beim letzten Verkauf am meisten bot.

Trotz gutem Budget nichts gefunden

Auch David Zimmermann suchte vergeb­ lich eine neue Wohnung im Oberengadin. Er war zehn Jahre lang weit herum geschätzter Jugendarbeiter in St. Moritz. Dann meldete sein Vermieter Eigenbe­darf an. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause klapperte der gebürtige Aar­gauer das halbe Tal ab. Sein Budget lag bei 2000 Franken Monatsmiete. Er fand nichts. Wohnungen, die für diesen Betrag oder weniger ausgeschrieben waren, «waren entweder komplett überteuert oder Haustiere waren nicht zugelassen, ich sah auch Löcher». Er ist verankert in der Gegend, «das Engadin war zehn Jahre lang mein Lebensmittelpunkt», erzählt er. Für seinen Abschiedsapéro rechnete David Zimmermann mit 30 Gästen – es kamen 80. Jetzt ist er zurück in der Gegend, in der er aufgewachsen ist. Als er vor seinem Wegzug den Jugendlichen in St. Moritz erzählte, weshalb er geht, habe einer der Jungs zu ihm gesagt: «Uns wurde auch gerade gekündigt.»

Die Wohnungsknappheit im Ober­engadin ist vergleichbar mit jener in Städten wie Zürich, bezahlbarer Wohn­raum für die im Tal arbeitende Bevölke­rung schon lange knapp. Corona habe die Situation weiter verschärft, sagt die Bündner Grossrätin Franziska Preisig (SP), Vorstandsmitglied des MV Grau­bünden. Man müsse das gesamte Engadin als Hotspot betrachten, nicht nur ein­zelne Gemeinden wie St. Moritz: «Der Druck verschärft sich, bis hinunter ins Unterengadin. Die anhaltend hohe Nachfrage führt zu Leerkündigungen.» Bis 2031 dürfte die Nachfrage um 15 % wachsen, wie eine neue Studie des Wirtschaftsforums Graubünden zeigt. Treiber seien «die Alterung und neu allenfalls ein Verdrängungseffekt durch die Zweitwohnungsnachfrage».

Die Wohnungsknappheit im gesamten Engadin ist mit der in Zürich vergleichbar (Bild: St. Moritz). (Foto: KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

Altrechtliche Wohnhäuser retten

Wer immer schon gegen die Zweit­wohnungsinitiative war, argumentiert, deren Annahme 2012 und das daraus re­sultierende Zweitwohnungsgesetz (ZWG) mit der Beschränkung auf 20 Prozent Zweitwohnungen pro Gemeinde sei wegen der verknappenden Wirkung auf Wohnraum schuld an der Verdrängung. Aber der heutige Druck auf die Mieten ist weniger der Initiative selber als viel mehr den Lücken im Gesetz geschuldet, die das Parlament zu verantworten hat. Um die Hausbesitzenden und ihre Eigentums­rechte nicht zu stark einzuschränken, hat man die von der Stimmbevölkerung an­genommene Initiative stark aufgeweicht. Als Folge davon steigt der Druck auf die sogenannt altrechtlichen Wohnhäuser, erklärt die Juristin Preisig: «Über 90 Pro­zent der Wohnungen in den alpinen Regionen sind in Häusern, die vor der Annahme der Zweitwohnungsinitiative gebaut wurden. Mit denen kann man immer noch machen, was man will, sie können auch als Zweitwohnungen gebraucht werden.» Darum, sagt sie, «werden dort jetzt nach und nach die Menschen rausgeschmissen». Dagegen und überhaupt gegen die Nutzung von Wohnungen als Zweitwohnungen sollten die Gemeinden und Kantone bei einer unerwünschten Entwicklung Vorschriften erlassen, die strenger sind als die im durchlöcherten ZWG formulierten – aber keiner der bürgerlich dominierten Alpen­ kantone hat ein Interesse daran. «Aus diesem Grund negieren die Gemeinden, dass es ‹unerwünschte Entwicklungen› gibt», sagt Daniel Kasel.

Vorstoss will weitere Aufweichung

Das Zweitwohnungsgesetz ist seit 2016 in Kraft. Die Gefahr der Zersiede­lung ist gedämmt, nicht aber jene der Verdrängung der einheimischen Bevölke­rung und überhaupt der Schwund von bezahlbarem Wohnraum. In touristischen Destinationen der Schweiz könnten so 32 000 Erstwohnungen umgenutzt und mit hohem Gewinn als Zweitwohnung verkauft werden. In der Bündner Ge­meinde Flims gebe es jährlich 22 solcher «stiller Konversionen» zu Zweitwoh­nungen, kommen die Autor*innen eines Forschungsprojekts der Fachhochschule Graubünden zum Schluss. Das Resultat ist, dass Einheimische keine Wohnung mehr finden. Franziska Preisig schätzt die Zahl noch einiges höher: solche, die vor der Annahme der Initiative gebaut worden sind. Knapp die Hälfte von ihnen ist von Einheimischen bewohnt, während der Rest bereits als Zweitwohnungen ge­nutzt wird. Jetzt gilt es, die verbliebenen gut 200 000 altrechtlichen Wohnungen als Erstwohnungen für die Leute zu retten, die in den Ortschaften arbeiten und ihren Lebensmittelpunkt haben.»

Dass dieses Ziel jetzt auf einen Schlag noch viel dringlicher wurde, hat mit einem Vorstoss in Bundesbern zu tun: Der Bündner Mitte­-Nationalrat Martin Candinas will das ZWG mittels einer par­lamentarischen Initiative weiter aufwei­chen – und er setzt bei den altrechtlichen Wohnungen an: Sie sollen vergrössert, er­weitert, durch neue Wohnungen ersetzt werden können, und das alles gleichzeitig. Dem Abbruch und Neubau altrechtlicher Häuser soll – abgesehen vom Heimat­schutz – nichts mehr im Weg stehen.

Nur eine kleine gesetzliche Anpassung sei dazu nötig, ergänzte der Bündner. Die zuständigen Kommissionen der beiden Räte haben bereits zugestimmt. Der Bun­desrat hat die Gefahr erkannt und ver­langt Einschränkungen: Abriss und Ver­grösserungen von bis zu 30 Prozent sind in Ordnung – falls dabei aber zusätzliche Wohnungen entstehen, dürfen diese nur als Erstwohnung genutzt werden. Das Parlament kann aber immer noch anders entscheiden.

Auf dem Weg zum zweiten St. Moritz

Wir reisen von Graubünden via Ober­alppass in die Innerschweiz, nach Ander­matt. Wo Wohnungen für Einheimische und für Hotelangestellte fehlen. Bänz Simmen betreibt hier den Kiosk 61. Der Einheimische bietet auch Führungen an. Er sagt, schon vor der Ankunft des In­ vestors Samih Sawiris sei es schwierig ge­ wesen, im Ort eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Gemeinde habe es ver­ schlafen, sich weiterzuentwickeln. Die Strukturschwächen seien mit Sawiris’ Ankunft im Dorf entlarvt worden. «Da herrschte anfangs grosse Euphorie – und man ignorierte vieles. Zwar war der offi­zielle Tenor, man wolle kein zweites St. Moritz werden, aber jetzt sind wir auf dem besten Weg dazu.» Auch was das Wohnen betrifft. Es sei ganz einfach so, sagt Bänz Simmen: «Wenn jemand kein Eigenheim hat, kann ers vergessen, hier etwas zu finden.» Auch wer im ehemaligen Elternhaus wohnt, hat spätestens ab deren Tod keine Wohnsicherheit mehr, wenn andere Erben involviert sind – denn die Bodenpreise sind inzwischen so hoch, dass es sich von den Einheimischen kaum noch jemand leisten kann, das Haus aus einer Erbengemeinschaft herauszukaufen.

Bei solchen Bedingungen ist der Anreiz gross, bestehende Wohnungen auszu­bauen und überteuert zu vermieten. Das ausgehöhlte ZWG verbietet das ja nicht. Gleichzeitig bräuchte es im Ort Personal­wohnungen, nicht zuletzt für die Ange­stellten in Sawiris’ Hotels. Auch das sei verschlafen oder ignoriert worden, sagt der Ortskundige – «von Sawiris selber und von der Gemeinde». Manche haben in ehemals 1600 Franken teuren 4-­Zimmer­-Wohnungen ein Zimmer und bezahlen dafür um die 1000 Franken. Ein gutes Ge­schäft für die Vermieter*innen. Ein ille­gales zwar, aber migrantische Menschen können sich nicht so einfach wehren – und warum sollten sie, wenn es beim Wohnen ohnehin keine Alternative gibt?

Im Oberwallis sind die Mieten wegen des Ausbaus der Lonza (vorne im Bild) regelrecht explodiert. (Foto: Keystone/Stefan Bohrer)

Lonza-Boom lässt Mieten explodieren

Die Reise geht weiter via Furka ins Wallis. Hier lautet das Motto ebenfalls: «Der Markt soll es richten», zimmerweise ver­mietete 4­-Zimmer­-Wohnungen sind hier wie in Andermatt Realität. Denn hier boomt das Geschäft der Lonza. In den letzten zwei Jahren hat das Pharma­ und Biotechunternehmen am Standort Visp mehr als 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Selber stellt Lonza Visp keine Wohnungen zur Verfügung, ihre Pen­sionskasse (PKL) sei jedoch Eigentümerin von Mietwohnungen in Visp, die sie «Mitarbeitenden von Lonza und dem breiten Mietmarkt» zur Verfügung stelle, schreibt der Mediensprecher auf Anfrage.

Am 25. Juni 2022 war im «Walliser Boten» zu lesen: «Im Oberwallis ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt ange­spannt. Freie Wohnungen sind rares Gut. Die Mieten sind aufgrund des Lonza-Booms regelrecht explodiert. Die langjäh­rigen Mieter müssen in einer neuen Woh­nung mit Mehrkosten rechnen.» Anlass für den Bericht: In Brig-­Glis war allen Mieter*innen eines Mehrfamilienhauses gekündigt worden. Das Haus gehört aus­gerechnet der Pensionskasse der Staats­angestellten des Kantons, PKWAL. Was in anderen Städten nichts Neues ist, pas­sierte hier zum ersten Mal: Ein 28 Jahre altes Gebäude soll totalsaniert werden und die staatliche Besitzerin, die nach eigenen Angaben über 1000 Wohnungen im Kanton besitzt und vorbildlich agieren sollte, will nicht in der Lage sein, ihren Mieter*innen für die Dauer der Renova­tion einen Ersatz zu beschaffen. Einen der Gründe für die Leerkündigung des Ge­bäudes verriet die PKWAL der lokalen Zei­tung gegenüber freimütig: Es seien auf dem Markt vermehrt kleinere Wohnungen gefragt. So teilt sie die bisherigen Familienwohnungen mit der Renovation in kleinere Einheiten auf. Betroffen sind auch hier langjährige ältere Mieter*innen.

Sozialhilfe-Obergrenze reicht nicht mehr 

Das Oberwallis hat keine eigene Sektion des Mieterinnen­ und Mieterverbandes, auf Missstände beim Wohnen auf­ merksam macht aber auch dort die SP, allen voran Claudia Alpiger, Präsidentin der SP Oberwallis. Weil es im Oberwallis kein einziges Gemeindeparlament gibt, müssen die Genoss*innen andere Mittel und Wege dafür finden. Dieses Jahr lancierten sie zusammen mit weiteren Partnern gleich drei Petitionen für bezahlbares Wohnen: eine für Brig, eine für Visp, die dritte für Naters.

In diesen Gemeinden und in der ganzen Region verschärft sich das Problem. Die Lonza­-Angestellten, die neu in die Region kommen, haben mit ihren guten Löhnen die besseren Chancen als Angestellte auf dem Bau oder bei der Bahn. Am schwierigsten ist die Situation für jene Menschen, die am wenigsten haben und sich am schlechtesten wehren können: die Sozialhilfebeziehenden. Für ihre Miete gibt es eine Obergrenze, die von Gemeinde zu Gemeinde variiert. Uli Truffer, der im Sozialdienst des Kantons Wallis arbeitet und viel Einblick hat, sagt: «Ein Drittel unserer Klientel bezahlt in­zwischen mehr an Miete, als sie von der Sozialhilfe dafür erhält. Das hat zur Folge, dass Betroffenen noch weniger fürs Essen bleibt.» Weil jetzt zusätzlich zum Markt­druck der Referenzzinssatz stark ansteigt, verlangte die SKOS kürzlich – alarmiert durch die steigenden Wohnkosten – verschiedene Massnahmen, auch wohn­ politische. So sei es wichtig, dass güns­tiger Wohnraum günstig bleibe und zu­ sätzlicher entstehe. Was sie nicht schrieb: dass die Entwicklung andernfalls auch die Gemeinden und Kantone teuer zu stehen kommt. Im Oberwallis beispielsweise verliert bereits jede Woche jemand – es kann auch eine ganze Familie sein – die Wohnung, ohne dass eine Anschluss­ lösung vorhanden wäre. Die Behörden haben dann keine andere Möglichkeit, als sie in einem Hotel unterzubringen.

«Leute sehen den Zusammenhang nicht» 

Zurück ins Engadin. Dort hat Selina Nicolay in einem Leserbrief publik gemacht, dass der Jugendarbeiter David Zimmermann sich mangels einer bezahl­baren Wohnung gezwungen sah, das Tal zu verlassen. Sie sagt: «Viele beklagen den Fachkräftemangel und finden, wir müssten Familien ins Tal holen. Aber wohin mit ihnen, wenn es keinen Wohn­raum gibt? Die Leute sehen den Zusam­menhang aber tatsächlich noch immer nicht.» Das hat womöglich auch mit den vielen Grenzgänger*innen zu tun, die über die Pässe pendeln, um in den Ober­engadiner Gemeinden auf dem Bau, in der Gastronomie oder bei den Bergbahnen zu arbeiten. Selina Nicolay hört die Leute oft sagen: «Die Arbeitskräfte kommen ja!» Und natürlich: Wer eine eigene Wohnung teuer vermieten kann, als Erst-­ oder als Ferienwohnung, beklagt sich zuletzt. Die Frage ist nur: Wie lange tut dieses marktorientierte Geschäftsmodell den Gemeinden und der Gesellschaft gut?