«Die Unsicherheit wird zur Normalität»

Foto: Reto Schlatter

Immer mehr Menschen werden in der Schweiz «entmietet» – sie verlieren ihre Wohnungen, ohne dass sie sich etwas zuschulden kommen liessen. Forschende haben bei Betroffenen gut hingehört.

Zunehmend machen Menschen die Erfahrung, dass eines ihrer existenziellen Bedürfnisse nicht mehr anerkannt und respektiert wird: das des sicheren Wohnens. Mit Miriam Meuth und Christian Reutlinger hat sich ein Team von Sozialwissenschaftler*innen inmitten der zunehmenden Verdichtungs- und «Aufwertungs»-Dynamik in den Städten dieser Form direkter Verdrängung angenommen, mit Fokus auf die Betroffenen. Herausgekommen ist eine Studie, die jetzt als Buch (open access als E-Book) erschienen ist und eindringlich aufzeigt, wie problematisch die Praxis des «Entmietens» ist – auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. M+W hat Miriam Meuth in Zürich zum Gespräch getroffen, ihr Kollege schaltete sich digital dazu.  

M+W: Miriam Meuth und Christian Reutlinger: Was ist den Menschen widerfahren, mit denen Sie und Ihre Kolleg*innen gesprochen haben? 

Meuth: Es sind Mieter*innen, die ihre Wohnungen verlassen mussten, obwohl sie stets alle Vertragskonditionen eingehalten haben. Sie haben auch immer anständig die Miete bezahlt. 

Das passiert immer öfter – Immobilienbesitzer kündigen, um ihren Profit zu steigern. Den Betroffenen sagen sie, Veränderungen gehörten nun mal zum Leben, man solle offen dafür sein. Was bedeutet eine solche Kündigung für die Betroffenen? 

Meuth: Eine Kündigung hat massive Konsequenzen. Sie zeigt sich in unseren Beispielen als Verdrängung aus der Wohnung und in vielen Fällen auch als Verdrängung aus dem bisherigen Quartier. Die Betroffenen sind gezwungen, eine neue Wohnung zu suchen. Ungeachtet dessen, wo sie im Leben gerade stehen, kommt eine enorme zusätzliche Belastung auf sie zu. Und sie werden ziemlich sicher keine Wohnung zum bisherigen Mietpreis finden. Das alles ist schon dramatisch genug. Das haben auch die Mieter*innen erfahren, die wir interviewt haben. Hinzu kommt die Art und Weise, wie mit ihnen seitens der Eigentümer*innen umgegangen wird. 

Miriam Meuth (Dr. phil.) ist Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Departement für Soziale Arbeit und Programmleitung des MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung. Ihre Schwerpunkte sind prekäres und institutionelles Wohnen, das Verhältnis von Wohnen und Sozialer Arbeit, Verdrängung/Gentrifizierung, Partizipation und Ausschluss in der Stadtentwicklung. (Bild: Reto Schlatter)
Christian Reutlinger (Dr. phil. habil.) leitet das Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind sozialräumliche Wohnforschung, internationale Ansätze zu Communitys und Nachbarschaften sowie Studien zur (Re-)Figuration öffentlicher Räume. (Bild: zVg)

Wie würden Sie den Umgang insgesamt bezeichnen? 

Meuth: Als kalt. Besonders bei Häusern, die renditeorientierten institutionellen Investor*innen gehörten, fühlten sich die gekündigten Mieter*innen unwürdig behandelt. Ihre Werte und Normen eines menschlichen Umgangs miteinander wurden nicht beachtet. Das macht das Ganze noch brutaler. Daran arbeiten sich die Betroffenen oft für lange Zeit ab. 

Reutlinger: Es ist ja ein bewusster Entscheid der Besitzer*in, der zu diesem Einschnitt führt, der eine*n Mieter*in wie eine Katastrophe trifft. Als Mieter*in fühlt man sich ausgeliefert. Man hat den Eindruck, nichts dagegen tun zu können. Zu behaupten, diese aufgezwungene einschneidende Veränderung sei unvermeidlich und das Unvermeidliche sei auch eine Chance für die Betroffenen, hat etwas Verlogenes und ist entsprechend perfide. 

Meuth: In einem von uns untersuchten Fallbeispiel wurde Bewohner*innen eines Hauses, die teils über 40 Jahre da gelebt hatten, mit einer nur dreimonatigen Frist gekündigt, und zwar auf Ende Dezember. In einem Brief, der später im Treppenhaus ausgehängt war, stand zum Schluss: «Und wir wünschen Ihnen fröhliche Weihnachten!» 

Warum erkennen diejenigen, die solche Floskeln schreiben, nicht, wie zynisch dies in den Ohren der Mieter*innen klingt? 

Meuth: Das hat wohl damit zu tun, dass die Blickwinkel der Betroffenen und der Verursachenden der Katastrophe völlig aneinander vorbeigehen. Ein Beispiel dazu aus einer Siedlung, die wir beforscht haben, sie gehört zu den Immo- bilienanlagen einer Grossbank: Der Vertreter versprach im Gespräch eine «sozialverträgliche Kündigungsprozedur». Seine Absicht und auch sein Verständnis von «sozialverträglich» hatten aber nichts mit dem zu tun, was für die Betroffenen in dem Prozess zentral war oder wenigstens verträglich mit ihren Bedürfnissen. 

Reutlinger: Die Perspektiven könnten unterschiedlicher nicht sein. 

Was bedeutet Wohnen eigentlich alles? 

Meuth: Viel mehr als das sprichwörtliche Dach über dem Kopf. Es beinhaltet beispielsweise auch Zugang zu Wasser und Einbettung in ein Quartier. Wichtig ist auch: Was individuell, aber auch gesellschaftlich unter Wohnen verstanden wird, ist kulturgeschichtlich gewachsen und gesellschaftlich normiert – so ist die Wohnung in unseren Breitengraden als privater Ort konnotiert und das Wohnen ist zum Beispiel mit bestimmten Hygiene- oder Familienvorstellungen verbunden. 

Reutlinger: Wir trafen auch immer wieder auf das Bild des Wurzelnschlagens und des gemeinsamen Wachsens. Die «Entwurzelung» durch die Kündigung bringt auf den Punkt, wie Menschen mit einem Ort – mit einer Siedlung, einem Haus, einer Wohnung – verflochten sind. Entsprechend ist das Wohnen stark mit Lebensphasen und -ereignissen verbunden: Man durchlebt die Phase des Jungseins in der Siedlung, des Kontakteknüpfens in der Nachbarschaft, des Kinderkriegens und -grossziehens oder des Altwerdens. 

Bewohner*innen prägen ein Quartier stark … 

Meuth: … und sie tragen zu seinem Wert bei. Eine Frau beschrieb uns minuziös, wie sie in das Quartier gezogen war. Es war die Zeit der offenen Drogenszene. Sie sammelte rund ums Haus Spritzen ein. Ihre Geschichte zum Ort schliesst sie so ab: «Wir haben an unserem eigenen Ast gesägt. Wir haben hier Strukturen geschaffen, die das Quartier lebenswert machten. Wir waren Teil des Aufwertungsprozesses, der uns den Kragen gekostet hat.» Das ist die Pointe. 

Das ist bitter. Mir geht in diesem Zusammenhang durch den Kopf: Verdrängt werden ist etwas, das ausschliesslich Mieter*innen passieren kann – es sei denn, sie wohnen in einer Genossenschaft. Wer ein eigenes Haus hat, braucht sich sowieso nicht zu fürchten. Sind alle Mieter*innen gleichermassen von Verdrängung betroffen? 

Meuth: Von einer sozialen und emotionalen Perspektive her grundsätzlich ja, egal welches Einkommen und welchen Bildungsstatus jemand hat. Etwas, das alle Betroffenen in den Beispielen kurzfristiger Kündigungen sagten, war: «Gekündigt zu werden ist ein dramatischer Einschnitt.» Dann gibt es aber einen grossen Unterschied: Wer mehr Ressourcen hat, kann sich schneller neue Möglichkeiten erschaffen, vielleicht sogar etwas Eigenes in der Umgebung leisten. Die anderen haben Abstiegsängste – und die sind real. Ganz einfach weil man für den bisherigen Mietpreis in der Umgebung ausser mit sehr viel Glück keine vergleichbar gute Wohnung mehr findet. Viele sind nach einer Kündigung gezwungen wegzuziehen. 

Wie gehen Menschen damit um, wenn sie im Zuge baulicher Verdichtung ihre Wohnung verlieren? Dieser Frage ging ab 2017 ein Forschungsteam um Miriam Meuth und Christian Reutlinger systematisch nach. Die Wissenschaftler*innen konnten damals noch nicht wissen, welche Dynamik das Abreissen ganzer Häuser und Siedlungen noch annehmen würde. Die qualitative Studie wurde vom Nationalfonds unterstützt und ist soeben erschienen. Die Forscher*innen arbeiteten unter anderem mit erzählgenerierenden Interviews und führten Gespräche mit Expert*innen. «Entmietet und verdrängt» erweitert und bereichert die Gentrifizierungsforschung und macht verständlich, von welcher auch gesellschaftspolitischen Bedeutung die zunehmende, renditegetriebene Verdrängung ist. Die Studie erscheint keinen Tag zu früh als Buch und frei zugänglich auch als E-Book

 

Sie beschreiben in der Studie auch eine «brüchige Solidarität» unter Gekündigten. Warum hilft man sich gegenseitig nur beschränkt in dieser Not? 

Reutlinger: Gerade in Häusern und Siedlungen, in denen viele Menschen «entmietet» werden, befindet man sich bei der Wohnungssuche in einer starken Konkurrenzsituation. 

Meuth: Es ist nicht so, dass die Personen an sich unsolidarisch sind. Vielmehr erzeugen Taktik und Strategie der Eigentümerschaften – etwa zeitlicher Druck oder vorenthaltenes Wissen – sowie die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt bei den einzelnen Personen Druck. Es entsteht eine Konkurrenzsituation, die dazu führt, dass alle erst mal ihre eigene Situation lösen müssen. Sich solidarisieren und gemeinsam vorgehen, auch öffentlich aktiv werden: Das können sich eher diejenigen leisten, die über ausreichend finanzielle und soziale Ressourcen verfügen. 

Aufgrund der fortschreitenden Verdrängung muss man sich bereits fragen, wie Pflegende oder andere in systemrelevanten Berufen je wieder eine Wohnung finden sollen in der Stadt. Eine, die ihnen auch bei Schichtarbeit die ÖV-Nutzung erlaubt. 

Reutlinger: Es geht zunehmend ums Eingemachte: Immer mehr Personen sind betroffen, die Mehrheit im Dienstleistungssektor. Leute, die fürs Funktionieren des Systems wichtig sind, erhalten keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Es ist auch ganz wichtig, dass jetzt erkannt wird: Die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum hat sehr zentral mit sozialer Nachhaltigkeit zu tun. Also auch mit der Frage, wie inklusiv und gerecht sich die Zukunft unserer Gesellschaft entwickeln wird. 

Lange Zeit galt das Wohnen zur Miete als sicher, sofern nicht Eigenbedarf drohte. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn für immer mehr Menschen Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit brüchig werden? 

Meuth: Irgendwann knallt es. Seit wir mit der Arbeit für diese Studie angefangen haben, nahmen Leerkündigungen massiv zu – inzwischen auch die Kritik an dieser Entwicklung. Da läuft etwas, es gibt zunehmend Bewegung aus der Zivilgesellschaft, auch Bottom-up-Initiativen wie etwa die Initiative «CS-Immobilien enteignen.» Die Leute gehen wieder vermehrt für das Recht auf Wohnen auf die Strasse; wenn auch in der Schweiz immer noch eher verhalten im Vergleich zu Deutschland etwa. 

Reutlinger: Wir leben in der Schweiz ja in einer top abgesicherten Gesellschaft. Nun aber wird beim Grundbedürfnis nach Wohnraum die Unsicherheit zur Normalität. Und ganz offiziell heisst es sogar, dass Wohnen – in der Stadt, am bisherigen Ort – nicht mehr für alle gewährleistet ist. Hier werden neue Spaltungen deutlich, Prozesse des Ausschliessens. Was das mit dem Selbstverständnis der Schweiz als sicheres Land macht, werden wir erst sehen. Man muss aber anfangen, das anzuschauen und zu diskutieren. 

Meuth: Wir sehen auch über eine historische Betrachtung, dass Wohnungsnot erst dann zum grossen Thema wird, wenn die Mittelschicht betroffen ist. Üble Wohnverhältnisse und Wohnungslosigkeit gibt es für einen Teil der Bevölkerung aber immer, man denke an Geflüchtete und Sans-Papiers. Ich finde es wichtig, dass systematisch und dauerhaft über das Wohnen gesprochen wird – politisch wie auch in der Wissenschaft. 

Reutlinger: … und dass die Betroffenen einbezogen werden! Am runden Tisch, den Bundesrat Guy Parmelin kürzlich einberufen hat, fehlten fast gänzlich Vertreter*innen aus der Sozialen Arbeit. 

Ich möchte gerne noch auf den Begriff des «Entmietens» zu sprechen kommen. Sie weisen in der Studie darauf hin: Er ist problematisch. Warum? 

Reutlinger: Wir haben in dem Begriff eine Fokusverschiebung – vom Objekt, der Wohnung, hin zu den Menschen. Konkret: Wer aus der vermieteten Wohnung mehr Rendite herausholen will, hat ein «Problem» – er muss sein Objekt von den Menschen befreien. Das hiess traditionell: Man «entmietete» das Wohnhaus – heute werden Menschen «entmietet». Es war spannend, diese Verschiebung zu beobachten. 

Meuth: Aktuell wird der Begriff der «Entmietung» von Immobilienunternehmen wie selbstverständlich verwendet. Tatsächlich wurde er bereits im Nationalsozialismus im Rahmen eines «Entmietungsgesetzes» – eines Gesetzes über Mietverhältnisse mit jüdischen Personen – verwendet. Wir sprechen deshalb auch nicht von Entmieten als einem analytischen Begriff, sondern beziehen uns auf den Sprachgebrauch einiger der Interviewten, die ihre passive Rolle im Prozess des Entmietetwerdens betonen. Brutal ist, dass die Kritik seitens der Betroffenen nicht an die Verursacher*innen adressiert werden kann, weil sich die Eigentümer*innen oft hinter den Verwaltungen verstecken und für die Mieter*innen nicht greifbar sind. 

Genau, diejenigen, die entscheiden, sitzen ja weit weg vom Geschehen, quasi in Deckung, während Immobilienbewirtschafter*innen «an die Front» gegen Mieter*innen geschickt werden. Das erinnert an Krieg. 

Meuth: Tatsächlich werden Menschen für diese Leerkündigungs-Arbeit innerhalb von Verwaltungen gewissermassen genutzt. Sie fungieren als Prellbock. Es sind oft junge Berufseinsteiger*innen, die richtiggehend verheizt werden. Für Mieter*innen ist diese Strategie ein Teil dessen, was das Gefühl des «Entmietetwerdens» ausmacht. 

Als Rezept gegen die Wohnungsnot führen Immobilienvertreter*innen stets an, es müsse mehr gebaut werden und dazu brauche es weniger strenge Regeln. Was sagen Sie dazu? 

Meuth: Bauen allein reicht nicht aus. Damit das raumplanerisch sinnvolle Ziel der Innenentwicklung sozial und ökologisch nachhaltig umgesetzt werden kann, was dringend geboten ist, braucht es auf Bundes- und Kantonsebene sozialwohnpolitische Vorgaben und eine Stärkung des Mietrechts für solche Fälle von Sanierungen und Ersatzneubauten. Auf Gemeinde- und Einzelfallebene alleine kann das nicht gelöst werden. 

Gespräch: Esther Banz