Tabula rasa auch in Witikon: Immer mehr Siedlungen werden leergekündigt und müssen im Namen der Verdichtung – und des Profits – teuren Neubauten weichen.
Sie tragen klingende Namen wie «Wow Wonderful Witikon», «Verdiana» oder «Wohnen in den Baumkronen»: Ersatzneubauten mit grösstmöglicher Ausnutzung oder komplette Neuüberbauungen auf der grünen Wiese, hauptsächlich Eigentums- und Mietwohnungen im gehobenen Segment. Witikon, das beschauliche Zürcher Quartier mit Dorfcharakter am Rand der Stadt, wird gerade von einer Welle von Bauprojekten – und Leerkündigungen – überrollt.
Diese Entwicklung war im Grunde absehbar, wenn man die Geschichte Witikons betrachtet: Ab den 1950er-Jahren erlebte das Quartier einen enormen Bauboom, im Verlauf der folgenden zwei Jahrzehnte entstanden zahlreiche familienfreundliche Siedlungen, viele davon mit grosszügigen Grünflächen. Die Bevölkerung wuchs rasant. All diese Wohnbauten werden nun auf einen Schlag sanierungsbedürftig. «Siebzig Prozent der Witiker*innen leben heute in einer Wohnung, die in den nächsten zwanzig Jahren erneuert werden muss», weiss Balz Bürgisser, Präsident des Quartiervereins Witikon. Was ihm besondere Sorge bereitet: Aufgrund der Altersstruktur im Quartier sind viele ältere Menschen von den Umwälzungen betroffen. Menschen, die seit Jahrzehnten in der gleichen Siedlung leben, die durch einen Umzug entwurzelt werden und dadurch zu vereinsamen drohen. Menschen mit bescheidener Rente, die in Witikon keine bezahlbare Wohnung mehr finden werden, weil mit den Ersatzneubauten die Mieten in die Höhe schiessen.
Aus Grün mach Gold
Eine der betroffenen Mieter*innen ist Margrit Brunner. Die 67-Jährige wohnt mit ihrem Mann seit 28 Jahren in der Siedlung an der Buchholzstrasse, die für ihren imposanten Baumbestand im Quartier bekannt ist. Gut die Hälfte der Bäume und die vier Wohnblöcke werden einem Neubau weichen müssen, der das Areal maximal ausnützt – statt 60 Wohnungen sollen es dereinst 130 sein. Das ist ganz im Sinne der baulichen Verdichtung, wie sie im kommunalen Richtplan der Stadt Zürich auch für Witikon vorgesehen ist: Flächen besser ausnützen, um mehr Wohnraum im Siedlungsgebiet zu schaffen. «Das liesse sich aber auch durch eine Erweiterung der bestehenden Häuser erreichen. Ich verstehe nicht, warum gleich alles abgerissen werden muss», meint Margrit Brunner kopfschüttelnd. In ihrer Siedlung, Baujahr 1966, wurde erst 2001 renoviert. «Sie haben die Gebäudeisolation verbessert, Küche und Bäder modernisiert, die Balkone vergrössert. Die Häuser sind noch gut im Schuss.»
Das sieht auch der Witiker Architekt Florian Eidenbenz so. «Die Siedlung an der Buchholzstrasse wäre gut für eine sanfte Innenverdichtung geeignet. Statt alles abzureissen, könnte man die bestehenden Gebäude sanieren, um zwei Etagen aufstocken und da oder dort um einen Anbau ergänzen.» Natürlich sei es für Architekt*innen attraktiver, und noch dazu einfacher, etwas komplett Neues zu entwerfen, als etwas Bestehendes umzugestalten. «Aber es ist eine wahnsinnige Ressourcenverschwendung und ein ökologischer Unsinn, ein vor kurzem saniertes Haus abzureissen und durch einen Neubau zu ersetzen.» Selbst wenn der Neubau energieeffizienter sei, sei fraglich, ob die graue Energie, die durch den Abbruch verpufft, je wieder wettgemacht werden könne. Eidenbenz kritisiert, dass das Hochbauamt sich nicht aktiver für Sanierungen von Wohnbauten einsetzt: «Man scheut sich offenbar davor, den privaten Eigentümer*innen dreinzureden, und lässt sie gewähren.»
Sanieren statt abreissen
Für eine Einflussnahme bei privaten Bauvorhaben fehlten teilweise die gesetzlichen Grundlagen, hält Katrin Gügler, Direktorin des Amts für Städtebau, dagegen. Bei der Planung weise man die Bauherrschaften auf den Aspekt der grauen Energie hin und berate sie entsprechend. «Diese Beratung wird zukünftig noch intensiviert werden», schreibt Gügler auf Anfrage. Florian Eidenbenz fordert ein proaktiveres Vorgehen der Stadt und mehr Weitsicht bei der Quartierplanung. Das überholte Paradigma des Ersatzneubaus müsse grundsätzlich überdacht werden. «Wenn der Veränderungsdruck in einem Quartier zunimmt, und das hat sich in Witikon ja schon lange abgezeichnet, müsste man frühzeitig analysieren, welche Arealüberbauungen sich zum Aufstocken eignen. Zudem sollten in der einschlägigen kantonalen und kommunalen Baugesetzgebung strengere Anforderungen punkto Ökologie erlassen werden, damit Sanieren attraktiver wird als Abreissen.» Die vorgesehene Revision «Klimaangepasste Siedlungsentwicklung» des kantonalen Planungs- und Baugesetzes könnte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. Damit hätten die Gemeinden die Möglichkeit, den Grundeigentümer*innen nicht nur wie bisher bei Arealüberbauungen, sondern auch bei der Regelbauweise weitreichendere Vorgaben im ökologischen Bereich zu machen, so Gügler.
Selbst für den Mittelstand wirds eng
Vorerst jedoch bleiben die politisch verordnete Verdichtung und die Zurückhaltung der Stadt ein Segen für die profitorientierten Bauherrschaften. Die Abrissbirne verspricht hohe Renditen – sind die bestehenden Mieter*innen erst einmal gekündigt, steht einer satten Mietzinserhöhung nichts mehr im Weg. Das hat auch Margrit Brunner beim Durchforsten der Wohnungsinserate in Witikon festgestellt. «In diesen Neubauten kostet eine 70, 80 Quadratmeter grosse 3,5-Zimmer-Wohnung über 3000 Franken im Monat. Das ist verrückt im Vergleich zu den 2200 Franken, die wir jetzt für unsere 120 Quadratmeter grosse 4,5-Zimmer-Wohnung zahlen.» Mit Unterstützung des Mieterinnen- und Mieterverbands haben Brunner und ihr Mann die Kündigung angefochten und neben einer finanziellen Entschädigung eine Erstreckung von neun Monaten erreicht. «Wir wollen einfach so weiterleben wie bisher und unseren Ruhestand geniessen: in einem ruhigen Quartier abseits des Verkehrs und nahe an der Natur, mit 4 bis 5 Zimmern und grosszügigem Balkon für all unsere Pflanzen, zu einem vernünftigen Mietpreis, der einen Viertel unserer Rente nicht übersteigt. In diesen Punkten wollen wir keine Abstriche machen.» Vor allem wollen sie auch nicht in eine Wohnung ziehen, aus der sie in ein paar Jahren erneut wegen Sanierung rausmüssen. In der Regel halten sich Eigentümer*innen bedeckt, was Umbau- oder Abrisspläne angeht, und stellen die Mieter*innen vor vollendete Tatsachen. Um dieses Risiko abschätzen zu können, liess sich Brunner etwas einfallen. «Mithilfe des GIS-Browsers, eines Webportals, in dem sich interaktive Karten zu unterschiedlichen Themen anzeigen lassen, konnte ich das herausfinden, was in den Wohnungsinseraten in der Regel nicht steht: Informationen zum Gebäudealter, zu Wohnzonen und Verdichtungsgebieten, zu bereits bewilligten Bauzonen und konkreten Bauprojekten im Umkreis.»
Trotz langer, intensiver Wohnungssuche wurde das Ehepaar in Witikon am Ende nicht fündig und beschloss, ausserhalb zu schauen, in anderen Stadtquartieren, im ganzen Kanton, ja sogar in Nachbarkantonen. «In Eschenz im Kanton Thurgau sind wir auf die perfekte Wohnung gestossen.» Der Entscheid, aus der Stadt wegzuziehen, sei ihnen aber nicht leichtgefallen und habe im Vorfeld immer wieder zu Diskussionen geführt. «Ich war als Hortleiterin und Spielplatzanimatorin 33 Jahre lang städtische Mitarbeiterin. Ich fühle mich eng mit Zürich verbunden», sagt Brunner. Umso mehr irritiert sie die gegenwärtige Entwicklung. «Mein Mann und ich haben nicht schlecht verdient, unsere Rente ist ganz okay. Was soll aus Witikon werden, wenn sich nicht einmal mehr Leute wie wir aus dem Mittelstand die Wohnungen hier leisten können? Wenn selbst langjährige städtische Mitarbeiter*innen in dieser Stadt keine bezahlbare Wohnung mehr finden?»
Mehr Mitsprache für Quartiere gefordert
Die Frage nach der Zukunft Witikons treibt auch Quartiervereinspräsident Balz Bürgisser um. Schon jetzt sind die negativen Folgen des neuen Baubooms spürbar. «Die Menschen, insbesondere ältere Leute und Familien mit Kindern, sind sehr besorgt. Die Ungewissheit, wie es mit der eigenen Wohnung weitergeht, macht vielen Angst. Das beeinträchtigt die Lebensqualität enorm und führt zu Unruhe im Quartier.» Bürgisser fürchtet um die gute soziale Durchmischung und den Zusammenhalt in Witikon, wenn Rentner*innen und Familien verdrängt werden und nur noch gutverdienende Zwei-Personen-Haushalte nachziehen. «Die Lösung wäre mehr gemeinnütziger Wohnungsbau. Wir haben in Witikon mit knapp 9 Prozent im Vergleich zu anderen Zürcher Quartieren vergleichsweise wenig gemeinnützige Wohnungen. Die Stadt müsste hier aktiver sein.»
Sie versucht es: Mit dem jüngst vom Zürcher Stadtrat lancierten, 300 Millionen schweren Wohnbaufonds sollen gemeinnützige Wohnbauträgerschaften beim Kauf von Grundstücken unterstützt werden. Ob Parlament und Volk dieses Finanzpaket absegnen, ist allerdings offen. In der Zwischenzeit wird in Witikon so manch teure Wohnung entstehen, wird mit der Verdichtung Grünraum im Siedlungsgebiet verloren gehen und mit dem Bevölkerungswachstum der Pendler*innenverkehr zunehmen. Das Gesicht und der Charakter von Witikon werden sich verändern. «Wir vom Quartierverein sind nicht gegen Veränderung und auch nicht gegen Verdichtung», sagt Bürgisser. «Aber die Entwicklung muss quartierverträglich erfolgen.» Er fordert mehr Mitsprache für die Quartiere bei privaten Arealüberbauungen. Die Stadt hat bei solchen Projektwettbewerben jeweils Einsitz in der Jury. «Das betroffene Quartier sollte ebenso mit einem Jury-Mitglied vertreten sein, um wichtige Fakten und die Bedürfnisse der Bevölkerung besser einbringen zu können», findet Bürgisser. «Es braucht bei solchen Projekten eine starke Stimme fürs Quartier – und gegen das eindimensionale Renditedenken.»
Text: Isabel Plana