Immer mehr Wohnungen sind im Besitz von renditeorientierten Unternehmen. Es wird en masse abgerissen, neu gebaut, luxussaniert. Die Mieten steigen. Was bedeutet das für die Städte? Wie wehren sie sich? Ein Gespräch mit Philippe Koch, Professor für urbane Prozesse an der ZHAW.
M+W: Kürzlich diskutierten Sie an einem Podiumsgespräch in Zürich mit einer Aktivistin aus Berlin darüber, wie dort – gerade eben – eine Initiative angenommen wurde, die renditeorientierte Immobilienkonzerne enteignen will. Hätte eine solche Initiative auch hierzulande eine Chance?
Philippe Koch: Nein. Die Voraussetzungen sind ganz andere. In Berlin verkaufte die hoch verschuldete Stadt ausgerechnet ihre eigenen Sozialwohnungsbauten, um an Geld zu kommen. So etwas hat es hierzulande nie gegeben. In Zürich etwa gibt es eine starke Vorstellung, dass der Staat zusammen mit Genossenschaften das Wohnproblem lösen kann – und gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften mit ihrer teils über hundertjährigen Geschichte garantieren bis heute Wohnsicherheit auch an zentralen Lagen. Der Genossenschaftsanteil ist allerdings nur in Zürich so hoch.
Wo sehen Sie heute die Brennpunkte im Zusammenhang mit dem Wohnen, räumlich-geografisch und sozialpolitisch?
Ganz klar: Je länger, je mehr an den Rändern der Stadt, in räumlichen Gebieten, von denen man wenig weiss, im «Nowhereland». Dort leben die Leute, die am meisten unter den räumlichen Veränderungen leiden. Es sind jene, die kein Stimm- und Wahlrecht haben und die Sprache nicht beherrschen. Für die politischen Parteien sind sie elektoral uninteressant, weil sie nicht wählen können.
Die Siedlung Bergacker in Zürich ist so ein Beispiel am Rand der Stadt. Über 400 bezahlbare Wohnungen wollen die Eigentümer Swiss Life und Habitat 8000 abreissen. Die Folge solcher Leerkündigungen ist oft, dass die Mieter*innen das Quartier oder sogar die Stadt verlassen müssen, weil sie nichts mehr finden, das sie sich leisten könnten. Was bedeutet es für die Struktur der Stadt, wenn im grossen Stil Nachbarschaften kaputt gemacht werden?
Dieser Punkt wird politisch tatsächlich viel zu wenig thematisiert – in der Forschung wird er aber vermehrt hervorgehoben. Es geht um die soziale Bedeutung des Wohnens, um die soziale Infrastruktur, die an das Wohnen gebunden ist und die vom Wohnen ausgeht. Diese Infrastruktur kann nur bestehen, wenn die Leute eine gewisse Bestandesgarantie haben.
Eine Wohnungs-Garantie?
Nein, ich meine nicht ein lebenslanges Recht, in einer bestimmten Wohnung zu bleiben. Aber eine Garantie, im vertrauten Umfeld, im Quartier bleiben zu können, so etwas müsste etabliert werden können. Denn die sozialen Netzwerke sind wichtig fürs Quartier, da wird viel Wissen weitergegeben und soziales Kapital aufgebaut. Dazu gibt es etliche Studien.
Was bedeuten diese nachbarschaftlichen Verbindungen zwischen Menschen?
Man fühlt sich zugehörig, ohne dass man sich zwingend als gleich wahrnimmt. Es geht nicht um Identität und Homogenität, sondern um Vertrautheit, die über alltägliche Begegnungen zwischen Fremden geschaffen wird – so können sogenannte «Communities of Strangers» entstehen. Das ist meiner Meinung nach das Ideal einer städtischen Gesellschaft: eine grosse Vielfalt an Menschen, die sich gegenseitig respektieren, ohne dass sie sich vergemeinschaften müssen. Das ist das eine, das extrem wichtig ist.
Und das andere?
Dass diese Leute, die unfreiwillig die Stadt verlassen, nicht «nur» ihre Wohnung verlieren, sondern auch ganz vieles, das die Stadt gewährleistet. Subventionierte ausserschulische Kinderbetreuung etwa. Oder Gemeinschaftszentren, Schwimmbäder – all diese Angebote, die in der Stadt selbstverständlich sind, gibt es in Agglomerationsgemeinden deutlich weniger. Man muss sich überlegen, was das für all die Kinder bedeutet, die ohnehin nicht die gleichen Voraussetzungen haben, rein vom ökonomischen und sozialen Kapital her, das die Eltern mitbringen. Und dann haben sie nicht einmal mehr das, was man in der Stadt mit den öffentlichen Angeboten zu kompensieren versucht. Darüber wird viel zu wenig gesprochen. Man weiss auch wenig darüber, wohin diese Leute überhaupt gehen. Und auch noch einen dritten Punkt gilt es zu bedenken: Eine Stadt, die sich nicht verändert, die nicht weiter baut und wächst, sich nicht öffnet für Leute, die zuziehen möchten, läuft Gefahr, zur geschlossenen Stadt zu werden. Zu einer Stadt der Privilegierten, wo es plötzlich selbstverständlich ist, dass Wohnungen 4000 Franken kosten dürfen.
Welchen Stellenwert hat das Wohnen eigentlich in der Stadtforschung?
Einen zentralen. Man kann auch sagen: Ein Ursprung der Stadtforschung war die Beschäftigung mit dem Wohnen als ökonomischem, kulturellem, aber auch politischem Phänomen. Friedrich Engels’ Texte über die Wohnsituation der Arbeiter im Norden von England sind hier zentral. Engels war der Erste, der das Wohnen auch unter dem Aspekt der Ausbeutung anschaute. Später war das lange Zeit kein Thema mehr. In der Nachkriegszeit gab es Wohnraum für mehr oder weniger alle. Und die Stadtforschung zum Wohnen wurde folglich weniger dringlich.
Wann änderte sich das wieder?
Eine ganz neue Bedeutung für die Stadtforschung erhielt das Thema Wohnen nach der Finanzkrise 2008. Da zeigte sich – in England und vor allem auch in den USA – wieder in aller Deutlichkeit, dass angemessenes oder menschenwürdiges Wohnen keine Selbstverständlichkeit ist und vom Markt allein nicht bereitgestellt werden kann. Und es zeigte sich sogar auch, dass die Politik und die Entscheidungsträger durchaus bereit sind zu akzeptieren und zu tolerieren, dass massenweise Leute ihre Wohnungen respektive Häuser verlassen und auf der Strasse leben müssen. Dass in einem kapitalistisch-demokratischen Staat Leute in Zelte flüchten müssen, hatte man zuvor lange Zeit nicht mehr gesehen. Kam dazu, dass Investoren unzählige dieser Häuser aufkauften und sie seither selber vermieten. Als Folge dieser Entwicklungen entstand eine neue, urbane Wohnforschung, die sich vermehrt als aktivistisch versteht.
Auch in der Schweiz ist immer mehr Wohnraum im Besitz von institutionellen Eigentümerschaften. Was ist die Folge davon für die Städte?
Das ist bislang schwierig zu sagen. Das Gute hierzulande ist, die Lex Koller verhindert, dass ausländische Kapitalströme ungehindert in den Schweizer Immobilienmarkt fliessen und in grossen Mengen und anonym Wohnraum gekauft werden kann. Gleichzeitig ist innerhalb der Schweiz viel Kapital vorhanden, das diese Rolle ebenfalls übernehmen kann. Und die Käufer wollen Rendite abschöpfen …
… vor allem mit den Mieten?
Nicht nur. Viele Unternehmen kaufen jetzt vor allem wegen des Buchwerts Liegenschaften. Sie müssen das Geld irgendwo deponieren. Das hat in den letzten zehn Jahren unter anderem aufgrund der Tiefzinspolitik angefangen.
Mit welchen Konsequenzen?
Was man in der Stadt Zürich jetzt schon sieht, ist, dass immer mehr natürliche Personen ihre Häuser verkaufen. Das andere ist, dass viele Pensionskassen oder andere institutionelle Anleger abreissen und neu bauen wollen, um möglichst viel Geld zu binden. Die Erträge aus den Mieten wären vermutlich höher, wenn man sanieren oder weiterbauen würde. Aber wenn man hundert Millionen hat und nicht weiss, wo anlegen, dann lohnt sich Abriss und Neubau immer.
Ist für die Grossen der Mietertrag nur noch Peanuts im Vergleich zur Wertsteigerung einer Immobilie?
Durchaus. Das Perfide ist: Der Wert von Häusern nahm in den letzten dreissig Jahren stetig zu, jedes Jahr. Ich nehme an, dass die grossen institutionellen Anleger wie Black Rock heute so funktionieren, dass sie sagen: Wir haben zwar laufende Erträge aus Mieten, das ist gut; aber vor allem bauen wir ein Portfolio auf, das wir gegebenenfalls neu schnüren und weiterverkaufen können – und dann wird richtig Gewinn gemacht. Das funktioniert natürlich nur mit einem grossen Portfolio.
Was heisst es für die Planbarkeit einer Stadt, wenn massenhaft Investoren kommen und Immobilien kaufen? Hat die Stadtregierung überhaupt noch Einfluss darauf, was die mit denen machen?
Man kann als Stadtregierung immer Einfluss nehmen.
Das klingt bisweilen anders vonseiten der Verantwortlichen … Ist ihr Einfluss denn gar nicht so beschränkt, wie sie selber gerne behaupten?
Der Stadt und auch anderen politischen Gemeinwesen steht eine Kaskade von Instrumenten zur Verfügung. Und es können – wie der Zürcher Stadtpräsident Emil Klöti in den 1930er-Jahren zeigte – bei Bedarf neue geschaffen werden. Wenn man einfach umzont oder aufzont, gibt man viel Verhandlungsmacht aus den Händen. Eine Stadt, die möglichst viel Einfluss nehmen möchte, muss schauen, dass sie auf der planerischen Ebene möglichst viel Verhandlungsmacht und Eingriffsmöglichkeiten behält.
Wie sichert sie sich die Verhandlungsmacht – ganz konkret? Und lassen sich die Instrumente aufzählen?
Zunächst einmal: Auf Wohnhäuser, die der Stadt gehören oder die auf städtischem Grund stehen, kann die Stadt direkt Einfluss nehmen. Hier könnte die Stadt – und mit ihr die Genossenschaften – auf Abriss und Neubau im Grundsatz verzichten und das Weiterbauen im Bestand zum Normalfall erklären. Beim privaten Wohnraum ist der Handlungsspielraum weniger offen. Aber es gibt ihn. In München hat sich die Regierung in Gebieten mit «Milieuschutz» ein Vorkaufsrecht auf Grundstücke gesichert, um Verdrängungsprozesse zu verhindern. Das stärkt die Verhandlungsposition der Stadt. In Basel wurde eben erst eine Wohnschutzinitiative angenommen, die die Position der Stadt auch bei Sanierungen und Umbauten stärkt. Sie kann nun die Bewilligung an Mietbedingungen knüpfen. Die Verhandlungsmacht der Stadt wird immer dann geschwächt, wenn Entwicklungspotenzial bedingungslos festgesetzt wird. Dann wird es für die Stadt schwierig, im nachhinein noch etwas einzufordern. Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass die Politik, wenn Ziel und Hartnäckigkeit vorhanden sind, viel erreichen kann. Ein erster Schritt wäre, menschenwürdiges Wohnen und einen gewissen Bestandsschutz – ähnlich dem Lärmschutz – zum öffentlichen Interesse zu erheben.
Nachdem die UNO-Sonderbeauftragte für das Recht auf angemessenes Wohnen, Leilani Farha, in Zürich gewesen war und die Credit Suisse für ihr Brunau-Abriss-Projekt kritisiert hatte, sagte die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch: Das Recht auf Wohnen können wir nicht durchsetzen, das ist rechtlich nicht bindend.
Da kommen wir zum Kern des Problems: Recht kann man als statisch gegeben behandeln oder als ein politisches Instrument, um etwas zu fordern. Das ist das, was der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre mit «Recht auf Stadt» meinte: Als eine Form und ein Instrument zum Organisieren, Mobilisieren, um Fragen anders zu stellen und neu zu beantworten. Das Recht auf angemessenes Wohnen ist, wie die Menschenrechte überhaupt, eines der Rechte, auf die wir am meisten angewiesen sind. Man kann sie zwar nicht per Gerichtsentscheid unmittelbar realisieren, insofern hat Corine Mauch Recht. Aber man kann das Recht auf Wohnen auch als Versprechen oder politischen Horizont verstehen und sagen: «Dafür müssen wir kämpfen! Und immer, wenn jemand dieses Recht brechen will, kämpfen wir dafür, dass es eingehalten wird!» Diese Haltung kann auch eine Stadtregierung einnehmen, wenn sie will. Vielleicht würde es sich tatsächlich lohnen, vor Gericht zu gehen und diese fundamentalen Ziele – wie das Recht auf eine angemessene Wohnung in Artikel 41 der Bundesverfassung – oder die zahlreichen Ziele in der Gemeindeordnung einzufordern. Der Rechtsweg ist ja immer auch ein politischer Weg.
Könnten auch die Genossenschaften eine politischere Rolle spielen?
Unbedingt. Sie bieten alle Voraussetzungen, um politische Organisationen zu sein – solche also, die die Auseinandersetzung und das Austragen politischer Konflikte als ihre Aufgabe sehen und nicht nur das Anbieten von Wohnungen. In der Geschichte und auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Uruguay, haben Genossenschaften oftmals eine sehr politische Rolle eingenommen und sich für Ziele eingesetzt, die über die unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder hinausgingen. Daher finde ich es sogar sehr wichtig, dass sich Wohnbaugenossenschaften – aber auch andere bestehende wohnpolitische Verbände – als genuin politische Organisationen verstehen und entsprechend handeln. Die Mieter*innen können sich schlecht organisieren und der MV braucht Verbündete. Wohnen wird heute allzu oft als eine Art privates Konsumgut betrachtet – man leistet sich ein Auto und eine tolle Wohnung. Wohnen ist vermeintlich privat. Dass es das nicht ist, muss immer wieder und von verschiedenen Seiten artikuliert werden.
Gespräch: Esther Banz und Andrea Bauer