Wir bleiben!

Die Mieter*innen der Forchstrasse 114 – 120 in Zürich übergeben dem Stadtrat Daniel Leupi (Zweiter von links) ihre Unterschriften. Der ehemalige AL-Gemeinderat Mischa Schiwow (Vierter von links) hat die Sammlung unterstützt.

Immer mehr Mietende wehren sich mit allen Mitteln gegen die Verdrängung – zum Teil mit Erfolg. Während die Politik vielerorts schläft, erhalten sie Unterstützung von solidarischen Nachbarschaften und einer wachsenden Wohnrechtsbewegung.

Der Immobilienmarkt in der Schweiz steht mächtig unter Druck, die Mieten sind im Steigflug und die Bodenpreise schiessen in astronomische Höhen. Davon profitieren hauptsächlich die grossen institutionellen Immobilienbesitzer im Land, an deren Spitze die UBS, die seit der Fusion mit der Credit Suisse ihr Portfolio auf 70’000 Woh­nungen aufstocken konnte. Dahinter folgt der Versicherungskonzern Swiss Life mit 38’000 Wohnungen.

Die Immobilienbesitzer erfreuen sich am «Boom», verbuchen aus den Renditen hohe Gewinne und wollen immer mehr Liegenschaften kaufen. Dies spiegelt sich auch im Bodenpreis, der sich etwa in Zürich seit 2010 mehr als vervierfacht hat. Kaufen renditegetriebene Anleger eine Liegenschaft, ist das Szenario oft ein Er­satzneubau, der wiederum zu höheren Mieten führt. Vermehrt wehren sich Mieter*innen gegen die Spekulation mit ihrem Zuhause. Und sie haben Erfolg, wie Beispiele aus Zürich und Basel zeigen.

Das Beispiel Forchstrasse in Zürich

In Zürich steigt der Bodenpreis schneller als der Puls eines Investment­bankers beim Anblick einer neuen Aktie. An der Forchstrasse 114 – 120, wo die Trams den Berg erklimmen und vom pompösen Seefeld wenig zu spüren ist, steht ein Haus mit dem Charme des Alters. Es ist das Zuhause von über 50 Mieter*innen. Diese Liegenschaft gehörte bis 2023 der Huber-Graf- und Billeter-Graf-Stiftung. Eine wohltätige Stiftung, die sich für bedürftige Men­schen einsetzt. Doch günstige Mieten waren nicht Teil ihrer Wohltätigkeit.

Im Februar 2023 erschien die Liegen­schaft im Portfolio eines Immobilien­maklers, angepriesen als «einmalige Gelegenheit für Investoren» mit Neubau­potenzial. Startpreis? 20 Millionen Franken. Für die Mieter*innen war schnell klar, was das bedeutet: Verdrän­gung. Für sie schien es keine Zukunft an diesem Ort zu geben.

Als Reaktion auf die Verkaufspläne versammelte der Gemeinderat der Alter­nativen Liste (AL) Mischa Schiwow die gesamte Mieterschaft. Jung und Alt kamen zusammen, um über den Verkauf zu diskutieren, ihre Ängste zu teilen. Schnell war klar: Kampflos räumt hier niemand die Wohnung. In einem Schreiben wandten sie sich an Dieter Gessler, den Präsidenten des Stiftungs­rates, und forderten Klarheit über die Hintergründe des Verkaufs. Gesslers Ant­wort? Die Stiftung wolle weiterhin be­dürftigen Menschen helfen, aber das Haus verkaufen, um mehr Mittel für ihre Tätigkeit zu generieren.

Die Enttäuschung bei den Mieter*in­nen war gross. Und die Wut noch grösser: Sie organisierten sich und intensivierten ihren Druck auf die Stadtregierung. Ihr Ziel: Die Liegenschaftsverwaltung der Stadt Zürich soll das Gebäude kaufen und damit ihren Verbleib sichern. Zwei lange Monate sammelten sie bei Sonne und Regen Unterschriften, führten Gespräche mit Quartierbewohner*innen über die wachsende Wohnungsnot und klopften unermüdlich bei der Stadtverwaltung an, um das Neueste zum Stand der Ver­kaufsverhandlungen zu erfahren. Am Ende reichten sie 800 Unterschriften beim Stadtrat ein (Bild oben).

Die Stadt kauft Häuser

Auch ihre Medienstrategie war ein Volltreffer. Der «Blick» brachte eine Re­portage über Ida und Fritz Scheidegger, ein Ehepaar um die 90, das seit über fünf Jahrzehnten an der Forchstrasse wohnt. «Wir haben hier unsere Freunde, hier kennen wir die Geschäfte. Es wäre sehr schwer, jetzt noch umzuziehen», sagte Ida Scheidegger der Zeitung. Eine be­zahlbare Wohnung im gleichen Quartier finden? Ein Ding der Unmöglichkeit. Auch die «WOZ» und «P. S.» sprangen auf den Zug auf und berichteten ausführlich, was die Wahrnehmung in der Öffentlich­keit weiter vergrösserte. Die Scheideggers und ihre Nachbar*innen wurden zu Symbolfiguren für diejenigen, die sich ge­meinsam gegen ihre drohende Vertrei­bung wehren. Ihre Botschaft war klar: Wir geben dieses Haus nicht auf. Und die Botschaft kam an. Die Stadt stieg ins Bietverfahren ein und kaufte die Häuser für satte 29 Millionen Franken. Ein Sieg für die Mieter*innen, die endlich wieder durchatmen konnten.

Jung und Alt kamen zusammen, um zu diskutieren und ihre Ängste zu teilen.

In der Zürcher Politik ist die Wohn­krise ein Dauerbrenner, das Budget für Immobilienkäufe in diesem Jahr sum­miert sich auf 500 Millionen Franken. Das ist zwar nur etwas mehr als ein Viertel des ersten Quartalsgewinns der UBS, hört sich aber dennoch nach viel Geld an. Davon profitierten kürzlich auch 39 Miet­parteien im Zürcher Quartier Wollis­hofen. Nachdem ihnen im März letzten Jahres die Nachricht vom drohenden Ver­kauf ihrer Wohnungen ins Haus geflattert war, kochte auch bei ihnen die Angst hoch. Die Bewohner*innen schlossen sich zusammen, um gegen den Ausver­kauf ihres Viertels vorzugehen. Auch sie forderten die Stadt mittels einer Peti­tion dazu auf, die Liegenschaften zu er­werben. Die Stadt Zürich griff tatsächlich zu und kaufte die Häuser im letzten April.

Doch die 500 Millionen des städti­sches Immobilienbudgets reichen nicht. Der grüne Finanzvorsteher Daniel Leupi hält das Drittelsziel – 33 Prozent aller Wohnungen in der Stadt Zürich sollen bis 2050 gemeinnützig sein – mittlerweile für sehr ambitioniert. Das Problem dabei ist aber mindestens teilweise hausge­macht. Die Zürcher Standortpolitik, die Konzerne wie Google und Disney mit offenen Armen empfängt, treibt damit die Mieten in die Höhe. Eine unbequeme Wahrheit, die in der Limmatstadt nicht gerne ausgesprochen wird.

Basel: Dank Hartnäckigkeit zum Erfolg

Um den Immobilienmarkt langfristig zu beruhigen, braucht es vielseitige Strategien. Eine aktive Zivilgesellschaft ist eine davon. In einem Markt, in dem immer mehr günstige Wohnungen abgerissen werden, weil die Mieteinnahmen nicht mehr genug Rendite abwerfen, er­höhen zivilgesellschaftliche Gruppen und Mieter*innen den Druck auf die Eigentü­merschaften – private wie öffentliche.

Auch in Basel sorgen teure urbane Grossprojekte wie das Klybeck-Areal, bei dem die Swiss Life eine wichtige Inves­torin ist, seit Jahren für Kritik. Nur ein paar Gehminuten von diesem entfernt befindet sich die Mattenstrasse 74/76. Für die Mieter*innen der beiden Häuser in Kleinbasel begann die Auseinandersetzung um ihr Zuhause bereits vor elf Jahren, als sie vom Besitzer, dem katholi­schen Vinzenz-Verein, von der Auflösung der Mietverträge erfuhren. Die Bewoh­ner*innen nahmen das Herz in die Hand und organisierten sich für einen jahre­langen Kampf um den Verbleib in ihren Wohnungen. Um das Recht, nicht ver­drängt zu werden. Bereits 2015 unterbreiteten sie, gemeinsam mit dem Miets­häusersyndikat, dem Vinzenz-Verein ein Kaufangebot. Dieser lehnte ab und reichte zwei Jahre später ein Baugesuch ein.

Die Anwohnerschaft reagierte mit einer Petition mit über 4000 Unter­schriften und 120 Einsprachen gegen das Neubauprojekt. Sie wagten den Schritt an die Presse und appellierten medien­wirksam an die Bibeltreue des Vereins. Sie schmückten das Haus mit dem alttesta­mentarischen Spruch «Durch Weisheit wird ein Haus gebaut und durch Verstand erhalten». Für die Petitionsübergabe or­ganisierten sie eine Marienprozession, bei der sie Santa Marí la Juaricua, der mexika­nischen Volksheiligen gegen Gentrifizie­rung, huldigten. Doch sie bissen wieder auf Granit.

Die Wende kam erst, als im August 2018 das Baugesuch des Vinzenz-Vereins abgelehnt wurde. Der Eigentümer zeigte sich nun zu einem Verkauf bereit. Die Häuser wurden an das Mietshäusersyn­dikat verkauft und ab 2019 von den Be­wohner*innen selbst verwaltet. Die jahre­lange politische Auseinandersetzung mit öffentlichen Aktionen, die Überzeu­gungsarbeit im Quartier, stundenlanges Unterschriftensammeln – es hatte sich gelohnt.

Im Zürcher Quartier Wollishofen gelang es den Mieter*innen, die Stadt Zürich mittels einer Petition davon zu überzeugen, die Häuser zu kaufen.

Ein gesamtschweizerisches Problem

Der Mangel an bezahlbarem Wohn­raum ist aber nicht nur in den grösseren urbanen Zentren der Schweiz ein Pro­blem, sondern auch in kleineren Städten wie Biel. Hier wird der Ruf nach städti­schem Wohnungsbau immer lauter. Die Stadt hat verhältnismässig viel Landbesitz und verfolgt eine aktive Bodenpolitik: Verkaufen ist keine Option. Doch der städtische Wohnungsbau ist im Tief­schlaf. Anna Tanner, SP-Parlamentarierin in Biel, klagt: «Die Verwaltung ist oft überfordert und verkauft auch immer wieder städtisches Land an Private.» 2022 startete die SP zusammen mit linken Parteien und Organisationen eine Offen­sive, die den städtischen Wohnungsbau stärken soll. Das Ziel? 20 Prozent gemein­nütziger Wohnraum. Doch dieses Ziel sei noch in weiter Ferne, sagt Tanner.

Noch bescheidener sind die Ziele in Luzern, wo bis 2037 ein Anteil von 16 Pro­zent an gemeinnützigen Wohnungen erreicht werden soll. Der Mieterinnen-und Mieterverband Luzern ist skeptisch, ob das Ziel überhaupt erreicht werden kann. Der Geschäftsleiter Daniel Gäh­wiler erklärt, dass die Stadt eigene Grundstücke im Baurecht an Genossen­schaften weitergebe, die dann Liegen­schaften errichten würden. Das Problem dabei: Neubauprojekte dauern lange in der Umsetzung und führen in der Regel zu höheren Mieten. Um dem zu be­gegnen, schlägt Gähwiler vor: «Die Stadt sollte besser preisgünstige Bestandsliegenschaften kaufen.»

Die Zürcher Standortpolitik treibt die Mieten in die Höhe. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist auch in kleineren Städten wie Biel ein Problem.

Der Blick nach Zürich, Basel, Luzern oder Biel zeigt: Die Wohnungsmärkte sind unter Druck, die Politik ist gefordert. Boden- und Mietpreise steigen kontinu­ierlich. Während es einzelne Bemü­hungen gibt, fehlen systemische Ant­worten wie ein Mietpreisdeckel oder eine Bodenpreisbremse jedoch weitgehend.

Es braucht Druck aus der Gesellschaft

Für solche Massnahmen braucht es steigenden Druck aus der Gesellschaft. Denn die Geschichten von der Zürcher Forchstrasse oder der Basler Matten­strasse sind nicht nur ein Erfolg der je­weiligen Mieterschaft. Sie sind das Re­sultat einer aktiven Wohnrechtsbewegung und solidarischer Nachbarschaften, die juristische, parlamentarische und aktivis­tische Mittel nutzen, um sich zu wehren.

Eine Basler Stimme, die sich in die Debatte einbringt, ist der Verein «Stadt für alle». Er vertritt «die Vision einer sozi­alverträglichen, partizipativen und ökologischen Stadtentwicklung und für ein Recht auf Stadt für alle Bewohner*innen Basels» und engagiert sich vielseitig im urbanen Streit um Wohnraum. Die Mit­glieder des Vereins sammeln Daten aus dem öffentlichen Grundbuch und veröf­fentlichen Karten und Zeitungen, um die Öffentlichkeit über die Besitzverhält­nisse in den Quartieren zu informieren.

In Zürich gibt es ähnliche Bewe­gungen, die das Angebot des Miete­rinnen- und Mieterverbands ergänzen. «Mieten-Marta» etwa veröffentlicht auf ihrem Wohnrechts-Blog Recherche-Leitfäden zum Grundstücksbesitz und liefert Fakten zur Wohnungsnot. Den Mieter*innen werden Instrumente zur Verfügung gestellt, mit denen sie sich selbst gegen Verdrängung wehren können. Das «Mietenplenum» wiederum organisiert regelmässige offene Treffen, an denen sich Betroffene und Unterstüt­zer*innen vernetzen können. Es werden politische Aktionen und Öffentlichkeits­arbeit organisiert, Tipps und Erfahrungen ausgetauscht und Informationen über aktuelle Probleme abgegeben.

Während wertvoller Boden und Wohnraum weiterhin in erschreckendem Ausmass und Tempo an Höchstbietende verkauft wird, suchen engagierte Mie­ter*innen und die Wohnrechtsbewegung Antworten auf diese Probleme. Und finden sie immer wieder auf unterschied­liche Art und Weise.

Text: Reto Naegeli