Immer mehr Mieter*innen sind in ihren vier Wänden von Baulärm geplagt – und fragen sich: Kann ich eine Entschädigung fordern?
Balkon mit Blick ins Grüne – das war einmal. Jetzt klafft vor der Wohnung von Familie Binder eine riesige Baugrube, in der heulend zwei Bagger am Werk sind. «Mitte Mai hat es angefangen», erinnert sich Martina Binder und zückt ihr Handy. Sie hat Fotos und Videos gemacht vom Abbruch der vier Mehrfamilienhäuser, die in den 1940er-Jahren hier mit viel Grünraum rundherum erbaut worden waren. Mehrere Wochen dauerte es, bis die Gebäude abgetragen waren, danach begann der Aushub für die künftige Tiefgarage. «Die Bauarbeiten erzeugten viel Lärm und Staub. Lüften oder auf dem Balkon sitzen war diesen Sommer tagsüber nicht möglich», erzählt Binder. «Selbst mit geschlossenen Fenstern war der Lärmpegel noch hoch.» Eine enorme Belastung für die Hausfrau und Mutter, die unter der Woche den ganzen Tag zuhause ist und dafür am Wochenende arbeitet – ausgerechnet dann, wenn die Bagger ruhen.
Anfragen nehmen zu
Die Baustelle vor Familie Binders Wohnung ist bei Weitem nicht die einzige im ruhigen und grünen Zürcher Quartier Alt-Wiedikon. In den letzten Jahren ist es hier lärmiger und grauer geworden. Im Bermuda-Dreieck zwischen Bahnhof Binz, Heuried und Schmiede Wiedikon verschwinden immer mehr Häuser, Bürogebäude und ganze Siedlungen samt Gärten und Bäumen, um grösseren Ersatzneubauten Platz zu machen. Über 360 Wohnungen wurden im Zeitraum von 2017 bis 2021 im Zürcher Kreis 3, zu dem das Quartier Alt-Wiedikon gehört, abgebrochen – und an die 1000 neu gebaut, wobei es sich ausschliesslich um Ersatzneubauten handelt. Für fast 500 neue Wohnungen wurde allein im letzten Jahr die Baubewilligung erteilt – viele davon dürften heuer bereits im Bau sein.
In anderen Quartieren wie Albisrieden oder Altstetten ist die Wohnbautätigkeit noch reger. Gesamtstädtisch betrachtet, wurden von 2017 bis 2021 über 4200 Wohnungen abgerissen – 1768 davon alleine im letzten Jahr – und über 11 700 neu gebaut. Berücksichtigt man ausserdem noch all die Strassen-und übrigen Tiefbauprojekte, ergibt das eine stattliche und wachsende Zahl lärmgeplagter Mieter*innen. Entsprechend haben die lärmbedingten Anfragen bei der Rechtsberatung des Mieterinnen- und Mieterverbands Zürich in letzter Zeit merklich zugenommen. Die Frage, die die meisten umtreibt: Kann ich eine Mietzinsreduktion verlangen?
Was der MV empfiehlt
«Ja», sagt Nicole Schweizer, Rechtsberaterin beim MV Zürich, «wer sich durch Baulärm in der Nutzung seiner Wohnung beeinträchtigt fühlt, kann eine Mietreduktion beantragen.» Dabei spiele es keine Rolle, ob der Neubau nebenan durch den eigenen Vermieter oder eine andere Bauherrin realisiert wird. «Im letzteren Fall zahlen Vermieter*innen eine Mietreduktion ja nicht aus der eigenen Tasche, sondern können dafür ihrerseits bei der Bauherrschaft eine Entschädigung einfordern», erklärt Schweizer. Das sei aber mit einigem administrativem Aufwand verbunden, weshalb viele Vermieter*innen eine Mietreduktion vermeiden wollen. Oft heisst es dann, man müsse mit Baulärm rechnen, wenn man in der Stadt lebt. Dieses Argument lässt Schweizer nicht gelten. «Das ist eine Ausrede der Vermieter*innen und mietrechtlich kein ausschlaggebendes Kriterium.»
Wer unter Baulärm leidet, kann sich also wehren und eine Entschädigung verlangen, in Form einer Mietreduktion für die Dauer der Lärmbelastung oder auch in Form eines einmaligen Pauschalbetrags. Das richtige Vorgehen ist dabei entscheidend, wie Schweizer aufzeigt. «Wichtig ist, sich mit einem eingeschriebenen Brief bei der Vermieterschaft zu melden. Darin schildert man die Situation – also seit wann und wie die Wohnqualität durch Lärm-oder auch Staubemissionen einer Baustelle beeinträchtigt ist, dass man zum Beispiel den Balkon nicht mehr nutzen kann – und bittet um einen Vorschlag für eine Mietreduktion.»
Lärmbelastung dokumentieren
Manche Vermieter*innen reagieren gar nicht oder erteilen direkt eine Absage. Andere gehen auf das Anliegen ein, wollen aber erst nach Abschluss der Bauarbeiten über die Höhe der Mietreduktion verhandeln. Im besten Fall machen sie direkt einen Vorschlag, «meistens im Bereich von 5 bis 10 Prozent», wie die Rechtsberaterin aus Erfahrung weiss. Ob das angemessen oder zu tief ist, müsse im Einzelfall beurteilt werden. «Wir empfehlen den betroffenen Mieter*innen, zu uns in die Beratung zu kommen, wenn sie ein Angebot auf dem Tisch haben und unsicher sind, ob es angemessen ist – und erst recht, wenn sie keine Reaktion oder eine Absage erhalten haben.»
Zudem rät Schweizer, die baustellenbedingte Lärmbelastung möglichst nachvollziehbar zu dokumentieren. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn man die Sache weiterzieht und es zu einem Schlichtungsverfahren kommt. «Idealerweise führt man eine Art Störungsprotokoll und hält darin für die einzelnen Bauetappen Art und Ausmass des Lärms fest», sagt Schweizer. Auch Videos und Fotos seien hilfreich. Dann stünden die Chancen in der Regel gut, dass man sich vor der Schlichtungsbehörde auf eine Entschädigung einigen kann. Im Rahmen eines solchen Vergleichs könne darüber hinaus auch ein frühzeitiges Auszugsrecht festgehalten werden. «Was auch immer man anstrebt, am besten ist, wenn sich mehrere betroffene Mieter*innen zusammenschliessen und ihre Forderung gemeinsam stellen.»
Nachbar*innen mobilisieren
Das hat sich auch Adrian Kunz* gedacht und ging auf seine Nachbar*innen zu, als die Bauarbeiten auf der gegenüberliegenden Strassenseite immer lauter wurden. Seit über einem Jahr wird hier an der Müllerstrasse im Kreis 4, mitten im Wohnquartier, ein grosses Bürogebäude kernsaniert. «An konzentriertes Arbeiten war bei dem Lärm nicht zu denken», erinnert sich Kunz, der wie viele letzten Winter im Homeoffice war. «Seit ich in der Stadt lebe – das sind jetzt bald zehn Jahre – hatte ich praktisch bei jeder Wohnung eine Baustelle in der Nachbarschaft», erzählt er. In der Vergangenheit hat er sich damit abgefunden, aber jetzt reicht es ihm. «Ich habe nichts dagegen, dass gebaut wird. Es gehört zu einer Stadt, dass sie sich verändert, dass sie verdichtet wird. Aber die Mieten in Zürich sind so hoch, dass man dafür entschädigt werden sollte, wenn man Baulärm ertragen muss.» Kunz nahm die Sache an die Hand und organisierte mit dem MV Zürich einen Informationsabend für die betroffenen Mieter*innen. Daraufhin entschieden sich sechs Parteien, beim Vermieter eine Mietzinsreduktion einzufordern. Wie die Sache ausgeht, ist noch offen.
Nicht zu lange warten
Im Rahmen einer Infoveranstaltung des MV Zürich, die eine Nachbarin für die betroffenen Mieter*innen im Quartier organisiert hatte, erfuhr auch Martina Binder von der Möglichkeit, eine Mietzinsreduktion einzufordern. Zu diesem Zeitpunkt hatte die junge Mutter aber andere Prioritäten: Sie war intensiv auf Wohnungssuche. Mit dem Baulärm war der Druck umzuziehen gestiegen. «Wir hatten schon seit Längerem vor, etwas Grösseres zu suchen, weil eine 2-Zimmer-Wohnung mit einem Kind auf Dauer zu klein ist. Ohne die Baustelle hätten wir uns aber mehr Zeit lassen können, denn es ist nicht einfach, in diesem beliebten Quartier etwas Bezahlbares zu finden.» Statt sich nur auf ausgeschriebene Wohnungen zu bewerben, begann Binder proaktiv bei Vermieter*innen nachzufragen, die Wohnungen im Quartier hatten. Mit Erfolg. Auf Anfang Oktober ist die Familie nach 14 Jahren aus ihrer alten Wohnung ausgezogen. «Jetzt habe ich den Kopf wieder frei und überlege, nachträglich eine Mietzinsreduktion bei unserer alten Vermieterin zu verlangen.»
Das ist allerdings schwierig. «Auf eine nachträgliche Forderung werden Vermieter*innen kaum eingehen und in einem Schlichtungsverfahren wären die Erfolgschancen auch eher gering», dämpft Rechtsberaterin Schweizer die Hoffnung. Grundsätzlich gilt: Je früher man sich an die Vermieterschaft wendet und anfängt, die Lärmbelastung zu dokumentieren, desto besser stehen die Chancen.
* Name von der Redaktion geändert
Autorin: Isabel Plana