«Sie können in Ihren Wohnungen bleiben»

Die Siedlung Im Tiergarten: Ihr Name geht auf eine frühere Nutzung zurück – hier wurden einst die an Krankheit verendeten Nutztiere entsorgt.

Die Siedlung Im Tiergarten wird saniert. Anders als sonst nur allzu oft, dürfen die Mietenden bleiben. Sanierungen im bewohnten Zustand sind eine wichtige Alternative zu Leerkündigungen. Sie verursachen aber auch Ängste und Unsicherheiten. Deshalb sind eine gute Kommunikation und ein früher Einbezug der Bewohnenden wichtig.

Zufällig kommt man nicht in der Siedlung «Im Tiergarten» vorbei. Die Gleise der Uetliberg-Bahn und eine Baumreihe schirmen die Überbauung von drei Seiten her ab. Und wen es doch in die Siedlung im Zürcher Friesenbergquartier verschlägt, den begrüsst ein Schild: «Arealbenutzung nur für Bewohner».

Katja E. wohnt schon seit 15 Jahren hier. Auf das Schild angesprochen, lacht sie. «Es wirkt nicht einladend von draussen, nein. Aber hier drinnen ist es ganz anders.» Die Siedlung im Tiergarten ist eindrücklich. 466 Mietwohnungen umfasst die 1993 bezogene Überbauung. Sie liebe es hier, sagt die Sozialarbeiterin: «Es ist wie ein Dorf in der Stadt.» Man helfe sich, schaue auf den Hund der Nachbarin, giesse deren Pflanzen. Es sei schön, in einer funktionierenden Gemeinschaft zu leben, meint Katja E. «Und das jetzt, das werden wir auch noch überstehen», fügt sie an.

Eine valable Alternative

Mit «das jetzt» spricht Katja E. an, was im Tiergarten gerade alle beschäftigt: Die Siedlung wird in den kommenden Jahren saniert. Den Bewohnenden droht aber keine Leerkündigung, das Schreckgespenst vieler Zürcher Mietenden. Die Sanierung passiert im bewohnten Zustand. In einem Informationsschreiben an die Bewohnenden versicherte die Inhaberin Plazza AG: «Alle Gebäude bleiben erhalten und Sie können in Ihren Wohnungen bleiben.»

Für Walter Angst, Co-Geschäftsleiter des Zürcher Mieterinnen-und Mieterverbands (MV Zürich), sind das gute Nachrichten: Sanierungen im bewohnten Zustand seien in den vergangenen zwanzig Jahren selten geworden. «Dabei wäre es eine valable Alternative zum Ersatzneubau.» Angst erklärt: «Wird leergekündigt, dann leben nach der Renovation selten noch mehr als fünf Prozent der Vormieter*innen im Haus.» Bei Sanierungen im bewohnten Zustand würden erfahrungsgemäss mehr als zwei Drittel in ihren Wohnungen bleiben. Das sei auch für die Vermietungsseite attraktiv. Die Mietzinszahlungen laufen weiter. Und die Aufwände für die Neuvermietung fallen weg.

Im Tiergarten

Die Siedlung Im Tiergarten war die erste mittels einer Sondernutzungsplanung vollzogene Umzonung einer grossen, vormals industriell genutzten Fläche für Wohnzwecke in der Stadt Zürich. Genau wie bei den Siedlungen Binz oder Brunau in der unmittelbaren Nachbarschaft stand hier bis 1974 eine Lehmgrube der Zürcher Ziegeleien. Ein Sprössling der Schweizer Wirtschaftsdynastie Schmidheiny, die während mehr als hundert Jahren die Zürcher Ziegeleien (später Conzzeta AG) geführt hatte, sitzt heute noch im Verwaltungsrat der Plazza AG. Nach dem Ende der Ziegelei erlaubte die Stadt der damaligen ZZ Immobilien AG (später Plazza Immobilien und seit 2015 Plazza AG), von 1988 bis 1992 auf dem Areal die heutige Siedlung Im Tiergarten zu bauen. Der Name Tiergarten geht auf eine noch frühere Nutzung zurück: Hier wurden einst die an Krankheit verendeten Nutztiere entsorgt.

Die Belastung ist trotzdem gross

Für die Mieter*innen sei eine Sanierung im bewohnten Zustand trotzdem kein Zuckerschlecken, so Angst. Die Belastung ist gross. Die Bewohnenden müssen für einige Wochen mit provisorischen Küchen und sanitären Anlagen in Containern vorliebnehmen. Und nach der Sanierung gibt es happige Mietzinsaufschläge.

Die Ankündigung hat im Tiergarten denn auch für Wirbel gesorgt, das bestätigt Annina Brügger. Auch sie wohnt mit ihrem Partner schon lange hier. Wie viel teurer wird die Miete? Wie lange wird es lärmig? Muss man ausziehen während des Umbaus? «Wir können uns arrangieren. Wir sind flexibel, verdienen beide und können auch mal bei Bekannten unterkommen, wenn der Lärm zu gross wird.» Aber viele in der Siedlung hätten kein finanzielles Polster oder würden Angehörige in der eigenen Wohnung betreuen, so die Softwaredesignerin. Die Verunsicherung sei daher gross.

Das scheint auch der Verwaltung bewusst gewesen zu sein. Sie hat die Kommunikationsagentur «s2r» mandatiert, die von Anfang an für eine offene Kommunikation sorgen soll. Diese will sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht öffentlich äussern. «s2r» hat bereits die Sanierung der Telli-Häuser in Aarau begleitet. Von 2020 bis 2023 wurden die 581 Wohnungen in der ikonischen Siedlung ebenfalls im bewohnten Zustand saniert. Die Sanierung gilt als Vorzeigeprojekt in Sachen Einbezug der Mieter*innen.

Unsicherheit ist für alle schlecht

Im Tiergarten wartet auf die Kommunikationsexpertin noch einiges an Arbeit. «Es wäre einfacher, wenn wir uns sicher sein könnten, fair behandelt zu werden», sagt Katja E. Sie spricht aus Erfahrung – bereits zweimal musste sie sich gegenüber der Vermieterschaft wehren. Als gleich nebenan ein Bürohaus zu Wohnungen umgenutzt und bis auf das Skelett zurückgebaut wurde, mussten die Mieter*innen für eine angemessene Entschädigung kämpfen. Und 2023 hat die Plazza AG die Erhöhung des Referenzzinssatzes mit stark übersetzten Kostensteigerungspauschalen berechnet. Es sei deshalb nicht erstaunlich, dass die Ankündigung, die Wohnungen neu mit Wäscheturm auszurüsten, in der Siedlung für Stirnrunzeln gesorgt habe, sagt Katja E. Es gebe Befürchtungen, die Eigentümerin strebe eine Luxussanierung an, um die Mieten hochzudrücken.

Unsicherheit sei auch für die Vermieterin schlecht, gibt Walter Angst zu bedenken. Wenn die Mieter*innen nicht mitmachten, könne es zu Bauverzögerungen kommen. Und das sei teuer. Für eine Sanierung im bewohnten Zustand gebe es klare Regeln. Das gelte auch für die Kosten, die auf die Mieten überwälzt werden dürfen, sagt Angst (siehe Box).

250 Personen an MV-Infoveranstaltung

Die mietrechtlichen Vorgaben seien aber für Mieter*innen oft ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb hat der MV Zürich die Bewohner*innen der Siedlung Im Tiergarten Anfang Juli zu einer Infoveranstaltung ins benachbarte Kirchgemeindehaus an der Bühlstrasse eingeladen. 250 Personen folgten der Einladung.

Die Einladungen seien von einer Kurierin in alle Briefkästen der Siedlung verteilt worden, erzählt Angst. Auch die Verwaltung, die ein Büro vor Ort hat, habe eine Einladung erhalten. Diese ging an die Kommunikationsagentur, die nach Rücksprache mit dem MV auch an der Mieter*innenversammlung teilgenommen und spontan offene Fragen der Mieter*innen beantwortet habe. Der Wunsch vieler Mieter*innen, auf eine flächendeckende Ausstattung der Wohnungen mit Wäschetürmen zu verzichten, wurde in den Gesprächen auch thematisiert. Für die Anwesenden sei aber noch viel wichtiger gewesen, wie hoch der Mietzinsaufschlag ausfallen könnte, so Angst. Eine erste grobe Schätzung der Investitionskosten sei möglich, sobald die Baueingabe vorliege. Angst erwartet dies frühestens Ende Jahr.

Die Plazza AG schreibt auf Anfrage, eine Luxusmodernisierung sei nicht vorgesehen. Die Sanierung diene der Erhaltung der Siedlung auf längere Sicht und Leerkündigungen würden bewusst vermieden. Vorgesehen sei eine «energetische Optimierung der baulichen und technischen Anlagen». Auch beabsichtige sie die Mieter*innen frühzeitig und periodisch zu informieren. Erste schriftliche Informationen wurden bereits verschickt und an zwei Anlässen im Juni hat auch ein erster Austausch mit der Mieterschaft stattgefunden, um deren Anliegen und Themen aufzunehmen. Die nächste grössere Information sei Ende Jahr vorgesehen.

«Einfach froh, dass sie uns nicht kündigen»

Für Mietende, die sich den Aufschlag nicht leisten können, hat die Verwaltung in einem Informationsschreiben vom Juni bereits eine Alternative angedeutet: Ein Umzug in eine kleinere Wohnung ermögliche es, «die Mietzinserhöhung abzufedern». Walter Angst vom MV Zürich begrüsst diese Möglichkeit. Die Eigentümerin müsse beim neuen Mietvertrag aber auf eine Anpassung der Miete an den Marktwert verzichten. Andernfalls drohe die neue, kleinere Wohnung dennoch teurer zu werden. Die Plazza AG hält sich bei diesem Punkt noch bedeckt. Man habe sich vorgenommen, «für mögliche spezielle Situationen im Einzelfall nach passenden Lösungen zu suchen».

«Der MV Zürich hat uns erklärt, was die Verwaltung machen darf – und was nicht», erzählt Katja E. Das habe viele ihrer Fragen beantwortet, etwa die Frage des Wäscheturms: «Ob ein solcher hingestellt wird, hat nur eine geringe Auswirkung auf die Mietzinserhöhung.» Da seien andere Faktoren viel relevanter, weiss sie nun. Sie seien aber immer noch Mieter*innen und könnten daher bei vielen Fragen nicht mitbestimmen, auch das habe der MV Zürich gut aufgezeigt. Was gemacht wird, entscheidet die Eigentümerin.

Auch Annina Brügger war am Informationsabend. Die Erklärungen des MV Zürich hätten etwas Sicherheit zurückgebracht: «Sie konnten uns erklären, wann genau wir mit welchen Informationen rechnen können», sagt sie. Das habe viele in der Siedlung etwas beruhigt. Und Katja E. fügt an: «Am Schluss sind wir alle einfach froh, dass sie uns nicht kündigen. Alles andere ist schliesslich temporär.»

Text: Balz Oertli, Recherchekollektiv WAV