Nichts mehr zu schräubeln 

Illustration: Patric Sandri

Die steigenden Kosten beim Wohnen und der Mangel an bezahlbaren Wohnungen verstärken schweizweit die sozialen Probleme. Der Bund delegiert Verantwortung und Kosten an die Kantone. SKOS und Caritas schlagen Alarm.

60 Franken mehr für die Wohnung, 50 Franken zusätzlich für den Strom und das Heizen und nochmals 120 Franken für die Krankenkasse aller Familienmitglieder, dazu ebenfalls teuerungsbedingt höhere tägliche Ausgaben beim Essen – das kann eine Person oder eine ganze Familie finanziell an den Rand bringen. Und genau das passiert jetzt. Die steigenden Kosten haben für unzählige Menschen dramatische Folgen. Jene, die schon zuvor kaum Reserven im Budget hatten, haben jetzt nichts mehr zu schräubeln.

Ohne Reserven, Freunde oder eine zugewandte Familie wird es unter diesen Umständen auch schwierig, die Miete zu bezahlen. Unser Gesetz ist dann gnadenlos: Bei Nichtbezahlung kann die Vermieterin eine Zahlungsfrist von 30 Tagen ansetzen und die Kündigung androhen. Wird die Miete innerhalb dieser Zeit nicht beglichen, kann sie mit einer weiteren Frist von 30 Tagen auf das Ende eines Monats kündigen. 

Hilfe wird zunehmend schwieriger 

Bei den Caritas-Beratungsstellen klopfen immer mehr Menschen an, die zu wenig verdienen, um noch alle Rechnungen bezahlen zu können – aber zu viel, um Sozialhilfe zu erhalten. Hilfe suchen auch Leute, die Sozialhilfe erhalten, aber deren Wohnung mit der Mietzinserhöhung zu teuer geworden ist. In vielen Gemeinden ist die Sozialhilfe streng beim Einhalten der sogenannten Mietzinslimite, Betroffene müssen die Differenz aus dem Geld, das ihnen fürs Essen bleibt, stemmen. Ferner suchen auch Menschen die Beratungsstellen auf, deren günstige Wohnung abgerissen wird und die seit Monaten vergeblich eine andere bezahlbare suchen. 

Caritas Zürich betreibt zur Unterstützung bei der Wohnungssuche das Mentoring-Projekt «Wohnfit» – aber wer einen Eintrag im Betreibungsregister hat, kann sich da nicht anmelden. Die privat organisierte Anlaufstelle «Hilfe bei der Wohnungssuche» berät auch diese Personen. Jeden Mittwoch empfangen Marie- Louise Fridez und weitere Freiwillige im Kafi Klick in Zürich Menschen, die es bei der Suche besonders schwer haben – sei es, weil ihr Deutsch nicht ausreicht, um einen überzeugenden Bewerbungsbrief zu schreiben, oder weil sie keinen Computer haben, mit dem sie einen solchen Brief schreiben könnten.

«Inzwischen können wir nur noch ganz wenigen wirklich helfen, weil es schlicht kaum noch bezahlbare Wohnungen gibt.» Trotzdem machen sie weiter. Und es kommen immer mehr Menschen, die Hilfe benötigen. Fridez sagt: «Unsere Arbeit füllt eine Lücke. Das kann aber kein Dauerzustand sein – die Politik muss sich darum kümmern.» Sie lernt immer wieder Menschen kennen, die sich verschulden, um die Miete oder die Krankenkasse oder beides bezahlen zu können. «Aber dann haben sie bei der Wohnungssuche noch mehr Probleme.» 

Meilenweit von Unterstützung entfernt 

Hilfsangebote wie jenes von Marie-Louise Fridez oder auch «Wohnfit» von Caritas Zürich – bei Caritas Aargau gibt es ein ähnliches Projekt namens «Wohnstart» – sind beinahe einzigartig für die Deutschschweiz. Die Wohnkrise schreitet allerdings überall im Land voran. Immer mehr Menschen können sich das Grundlegendste – Wohnen, Essen und Gesundheit – nicht mehr vorbehaltlos leisten. 

Betroffen sind auch Erwachsene, die im Berufsleben stehen und Kinder haben. Es sind sogar gerade sie, denn «die im unteren Einkommensbereich sind immer noch meilenweit davon entfernt, Unterstützung zu erhalten», sagt Andreas Lustenberger, Geschäftsleitungsmitglied von Caritas Schweiz. Lustenberger nennt ein typisches Beispiel: eine 4-köpfige Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Die Eltern arbeiten mit einem Pensum von 150 Prozent – er 80 Prozent in der Gastronomie, sie 70 Prozent in der Pflege. Einen kleinen Teil der Kinderbetreuungsaufgaben deckt die Kita ab. Mit ganz normalen Lebenshaltungskosten kommen sie in einem durchschnittlichen Kanton auf Ausgaben von rund 6000 Franken im Monat für die ganze Familie. Sozialhilfeberechtigt wären sie nur, wenn sie zusammen weniger als 3900 Franken Einnahmen hätten. Sie verdienen also quasi 2100 Franken «zu viel», um überhaupt Unterstützung zu erhalten. Genau in dieser Spanne dazwischen gebe es viele mit Kindern, weil sie wegen der Betreuung die Pensen reduziert haben.

Genau das, sagt Andreas Lustenberger, seien «die Leute, die jetzt in eine Krise kommen». Wenn schon 6000 Franken für eine Familie kaum reichen – wie sollen sie da mehrere hundert Franken mehr fixe Kosten stemmen können? «Wir sehen, dass Menschen bei steigenden Wohnkosten bei der Gesundheit, dem Essen oder bei Kursen für die Kinder sparen», sagt der Wirtschaftsgeograf. 

Ein Vorschuss würde reichen 

Das ist auch in den Bergkantonen nicht anders. Im Oberwallis erlebt die Sozialarbeiterin Jasmine Gnesa, dass immer mehr Menschen keine Anschlusslösung haben, wenn sie ihre Wohnung verlieren. «Früher kam es einmal im Jahr vor, dass wir jemanden in einem Hotel unterbringen mussten – inzwischen sind es viele mehr», erzählt sie. 

Jasmine Gnesa hat sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit vertieft mit der Wohnproblematik auseinandergesetzt und sieht viele Lücken im Schweizer System, angefangen bei Zahlen und Statistiken. Als eine Konsequenz daraus fehlten Strategien und Mittel, um mit den Schwierigkeiten umzugehen, sagt sie. 

So könne man den Menschen beispielsweise oft erst zu spät helfen, nämlich wenn sie die Wohnung bereits verloren haben: «Man muss zuerst in die Sozialhilfe fallen, um Anrecht auf Unterstützung zu haben.» Dabei würde vielen bereits ein Vorschuss von einer Monatsmiete helfen, um die Wohnung behalten zu können. Und dass die Sozialhilfe mit der Vermieterschaft reden würde, sagt sie. Denkbar wäre auch eine Bürgschaft, wie sie die Stiftung Domicil in Zürich oder Immo Solidaire im Wallis übernimmt – alles mit dem Ziel, Wohnungs-und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Aus ethischen Gründen – und ganz einfach auch, weil Notunterkünfte in Hotels die öffentliche Hand x-fach stärker belasten als Zuschüsse, damit jemand die Wohnung behalten kann. 

«Beim Wohnen gibt es nichts» 

Aber diese Unterstützung fehlt im ganzen System – was Jasmine Gnesa nicht versteht. Sie sagt: «Vergleichen wir doch mal mit der Arbeitsvermittlung. Da gibt es Fachstellen, Beratungen, Integrationsangebote – das Angebot ist riesig! Und beim Wohnen? Da gibt es nichts.» Was sie vermisst, ist ein Wohnhilfesystem mit Fachstellen und Vermittlungen. «Wichtig wäre dabei die Unterstützung, bevor die Menschen ihre Wohnung verlieren», sagt sie. 

Das praktisch gänzliche Fehlen von Wohnhilfe-Angeboten habe mit den rechtlichen Grundlagen im Land zu tun, konkret: Mit dem Fehlen einer staatlichen Pflicht, das Recht auf Wohnen sicherzustellen. Dieses Recht sei viel zu wenig klar definiert. Deshalb muss sie «Recht auf Wohnen» gleich selber wieder relativieren: «Unsere Gesetzesgrundlage ist diesbezüglich höchst unpräzise, und damit fängt das ganze Problem an: Es gibt zwar in der Bundesverfassung den Artikel 12. Aber ein eigentliches ‹Recht auf Wohnen› oder auf Wohnhilfe ist dort nicht festgeschrieben. Das wird auf die Kantone abgeschoben.» 

Für Jasmine Gnesa zeigte sich im Rahmen ihrer Untersuchung deutlich: Dass das Grundrecht auf Wohnen hierzulande so unpräzise formuliert ist, hat zur Folge, dass den damit verbundenen wachsenden sozialen Problemen nicht Einhalt geboten werden kann. Denn es werden noch nicht einmal Zahlen dazu erhoben, es gibt schlicht keine Statistiken. Man braucht nicht Ökonomin zu sein, um zu verstehen: Wo keine Zahlen, da keine Fakten. Gnesa sagt: «Die Politik sieht das Problem nicht.» 

Und die Zuständigkeiten seien – nicht zuletzt dadurch – nicht klar. Jasmine Gnesa: «Muss der Kanton Mandate erteilen und den Leistungsvertrag anpassen? Müssen die Gemeinden handeln, beispielsweise mit Notunterkünften? Oder muss zuerst der Sozialdienst Beratungsprozesse anpassen? Niemand fühlt sich zuständig, und dadurch sieht sich niemand gezwungen zu handeln.» Somit «koche jeder in seiner Küche» und eine Zusammenarbeit im Rahmen eines gelingenden Wohnhilfesystems in der Region sei nicht möglich. 

Obdachlosigkeit nimmt zu 

Dass die Politik das Problem nicht sieht, wie Jasmine Gnesa sagt, dürfte sich in nächster Zeit ändern. Denn die Obdachlosigkeit nimmt zu. Gemäss einer aktuellen Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) waren zum Zeitpunkt der Untersuchung landesweit etwa 2200 Menschen obdachlos, weitere 8000 vom Verlust der Wohnung bedroht. Die Studie wurde im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen verfasst. 

Unterdessen hat die Stadt Bern bekannt gegeben, dass die Zahl Obdachloser stark angestiegen sei. Viele von ihnen litten an psychischen Erkrankungen, heisst es. Die Stadt baut die Obdachlosenhilfe nun aus und passt sie den neuen Gegebenheiten an. 

Es gibt viele Gründe für Obdachlosigkeit. Immer häufiger stecke der Druck des Wohnungsmarktes dahinter, sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS): «Er bewirkt, dass Leute, die bisher in Nischen noch Wohnraum gefunden haben, diesen jetzt verlieren. Auch Leute, die die Miete nicht mehr bezahlen können, sind von Obdachlosigkeit bedroht. Denn bei ihnen kommt es zur Zwangsvollstreckung.» 

Die Wissenschaftler*innen der FHNW kamen unter anderem zum Schluss, dass Obdachlosigkeit durch niederschwellige Wohnangebote verhindert oder bekämpft werden kann und dass ein Ausschluss aus der Gesellschaft frühzeitig verhindert, aufgefangen oder gemildert werden sollte. Das unterstreicht Jasmine Gnesas Forderungen nach sozialer Unterstützung von Menschen, die nicht bei der Sozialhilfe angemeldet, aber vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind. Auch Markus Kaufmann von der SKOS sagt: «Wir hoffen immer, dass die Leute zur Sozialhilfe kommen, bevor sie die Wohnung verlieren. Denn jemanden zu unterstützen, der keine Wohnung mehr hat, ist noch schwieriger.» 

Illustration: Patric Sandri

Angst vor den kommenden Jahren 

Bei Caritas ist man besorgt, dass die Zahl der auf Hilfe Angewiesenen 2024 nochmals stark steigen wird – wegen der dann abermals ansteigenden Miet- und Nebenkosten: Um bis zu 15 Prozent, so rechnet das Bundesamt für Wohnungswesen, wird sich das Wohnen bis ins Jahr 2026 wohl durchschnittlich verteuern. «Viele Leute, die bei uns in die Beratung kommen, sind extrem nervös und haben Angst», erzählt Aline Masé, Leiterin Grundlagen und Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz, «auch wir haben grosse Angst davor, was die steigenden Mieten fürs nächste Jahr bedeuten.» Sie hat Einblick in Budgets und sieht, wie viele «auf null austariert oder bereits im Minus» sind. Sie sagt: «Es verträgt eigentlich schon jetzt nichts mehr. Und eine günstigere Wohnung muss man erst einmal finden.» Viele würden schon jetzt beim Essen und der Gesundheit sparen, um die Miete bezahlen zu können: «Der Budgetposten Wohnen und Energie macht im untersten Einkommensfünftel ein Drittel des Bruttoeinkommens aus.» 

Auch Markus Kaufmann von der SKOS sagt: «Wenn die Mieten derart steigen, gibt es mehr Working Poor.» Also mehr Menschen, die von dem, was sie verdienen, nicht mehr leben können. Das falle zuerst in der Sozialhilfe auf, die eine Seismographenfunktion für die sozialen Probleme habe. Die steigenden Wohnkosten, sagt auch Aline Masé von Caritas Schweiz, würden bald schon zum grössten sozialpolitischen Problem werden: «Bis in den Mittelstand hinein. Es muss jetzt schnell etwas passieren.» 

Schnelle Hilfe wäre nötig 

Für kurze Zeit schien es, als habe der Bundesrat den Ernst der Lage erkannt. Wohnminister Guy Parmelin (SVP) lud zum runden Tisch, um die Wohnkrise in den Griff zu bekommen. Aber die Enttäuschung ist nach dem kürzlichen zweiten Treffen, an dem die Immobilienseite erneut deutlich in der Überzahl war, gross aufseiten der Mieter*innen und derer, die sie dort vertraten. Parmelin schlägt preisdämpfende Massnahmen vor, aber erstens lösen diese das systemische Problem nicht und zweitens bringt er die Vorschläge erst im Sommer 2024 in die Vernehmlassung (vgl. Bundesrat will etwas dämpfen). 

Was schneller wirkt, ist die sogenannte Subjekthilfe: Man unterstützt die Mieter*innen beim Bezahlen der Wohnkosten. In der Fachsprache heisst das Instrument «Individuelle Wohnbeihilfen». Weil der Bund die Verantwortung aber an die Kantone delegiert hat, ist es Glückssache, ob Armutsbetroffenen in ihrer teuerungsbedingten Wohnnot geholfen wird. Die SKOS zählt in einem Grundlagenpapier, das sie im September angesichts der sich verschärfenden Wohn- und Sozialkrise zusammen mit einer Pressemitteilung («SKOS sieht dringenden Handlungsbedarf beim Thema Wohnen») veröffentlicht hat, auf: Im Kanton Basel- Stadt gibt es unter bestimmten Voraussetzungen Familienmietzinsbeiträge für Haushalte mit mindestens einem Kind. Im Kanton Baselland existieren ebenfalls Mietzinsbeiträge für armutsbetroffene Familien und Alleinerziehende. Der Kanton Genf sowie verschiedene Gemeinden im Kanton Waadt kennen eine «allocation de logement». Die Mieterschaft kann diese erhalten, wenn der Mietzins eine zu hohe Belastung für ihr Einkommen und Vermögen darstellt und sie bestimmte Kriterien erfüllt. In den Städten Zürich und Luzern wiederum wurden im Zuge der steigenden Energiepreise diesbezügliche Zuschüsse eingeführt. 

Die Alarmglocke geläutet 

Die SKOS appelliert auch an die Eigentümer*innen von Mietliegenschaften: Sie sollen doch bitte davon absehen, die aufgrund der Hypothekarzinserhöhungen möglichen Mietzinsanpassungen voll auszuschöpfen. Der Bund, die Kantone und Gemeinden sollten ihre Massnahmen zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum weiter ausbauen, mit der Betonung auf «bezahlbar», wie Markus Kaufmann sagt. In ländlichen Regionen gibt es beispielsweise noch kaum Wohnbaugenossenschaften, in den Städten können diese wegen der hohen Bodenpreise kaum noch wachsen. 

Aline Masé von Caritas Schweiz erachtet auch Vorgaben bei baulichen Verdichtungsprojekten und weitere Massnahmen gegen die Verdrängung, wie sie der Mieterinnen- und Mieterverband vertritt, als unumgänglich. Und sie plädiert für Ergänzungsleistungen für alle, die elementare Ausgaben nicht mehr stemmen können – eine Art Grundeinkommen, aber mit Bedingungen. 

Weil das alles Zeit braucht, kommt man jetzt um schnelle Massnahmen, die den Betroffenen direkt helfen, nicht herum. Bei den Limiten, die für die Mieten von Menschen in der Sozialhilfe gelten, appelliert die SKOS deshalb eindringlich an die Gemeinden, diese weniger streng zu handhaben. Ja, mit ihrem kürzlichen wohnpolitischen Appell habe die SKOS Alarm schlagen wollen, bestätigt ihr Geschäftsführer, denn: «Die Lage ist ernst.» 

Autorin: Esther Banz