Mitholz ist überall 

Originalwurzelstock aus einem Garten in Mitholz – zu sehen in der Ausstellung «Heimat». Bild: Alpines Museum

51 Menschen müssen 2030 ihr Dorf Mitholz im Berner Oberland für lange Zeit verlassen, weil im Hausberg noch immer explosive Altlast der Armee lagert. Eine Ausstellung thematisiert die Geschichte sensibel und akribisch und geht am Rande auch der Frage nach, was der Verlust des Zuhauses – ob Eigenheim oder Mietwohnung – in einer sesshaften Gesellschaft bedeutet. 

«Es hat mich fast ‹verschrissen›, als ich erfuhr, dass ich wegmuss. Ich wollte hier alt werden, bis sie mich im ‹Truckli› raustragen», sagt eine Frau in der Ausstellung «Heimat» im Alpinen Museum in Bern. Sie ist eine der Mitholzer*innen, die an der Aufarbeitung der unglaublichen Geschichte beteiligt waren. Es ist eine Armee-, eine Arroganz- und Ignoranz-Geschichte. Und sehr stark eine Auseinandersetzung mit dem, was sie, die Bewohner*innen des Bergdorfs, aufgeben müssen. Zwar sind nur 51 Menschen gezwungen, Mitholz für zehn Jahre zu verlassen (87 weiteren ist der Entscheid freigestellt) – aber ein Teil dieser Geschichte betrifft aktuell Tausende im ganzen Land. Denn es geht um den erzwungenen Verlust dessen, was wir «Zuhause» nennen. 

Immer mehr – vor allem auch ältere – Menschen mussten in den letzten Jahren ihre Wohnung verlassen, weil ganze Siedlungen sogenannt leergekündigt und totalsaniert oder sogar abgerissen wurden. Vor allem Mehrfamilienhäuser mit günstigen Wohnungen aus der Nachkriegszeit sind betroffen und mit ihnen Mieter*innen, die unter dem Vorwand der energetischen Sanierung oder der Verdichtung ausgewechselt werden. Die Immobilienbesitzer steigern auf diese Weise ihre Rendite, während Tausende Menschen ihre Heimat verlieren. 

In der Mitholz-Ausstellung (es lohnt sich, für mehrere Stunden einzutauchen!) wird diese Verbindung zwar nicht geknüpft, in der Begleitpublikation gibt es aber Bezüge. So geht Eveline Althaus, wissenschaftliche Projektleiterin an der ETH Zürich, der Frage nach, was Häuser mit Menschen machen. Sie hat sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Verlust der Wohnung auseinandergesetzt und schreibt: «Die eigene Wohnung, das eigene Haus ungewollt verlassen zu müssen, gehört in einer sesshaften Gesellschaft wohl zum Schwierigsten, was Menschen erleben können.» Denn mit der Wohnung verliere man nicht nur den Raum, «der Schutz und Erholung bietet, Rückzug und das Zusammensein mit anderen erlaubt», sondern es gehe auch all das Vertraute verloren, das man im Alltag oft gar nicht bewusst bemerke: «Wie es riecht, wenn man heimkommt, wie die Sonne abends in die Stube scheint, wie sie Lichttupfer an die Küchenwand malt, wie die Dielen immer an der gleichen Stelle knarren.» Solche Erfahrungen und Atmosphären, schreibt Eveline Althaus, sind jedem Haus und jeder Wohnung eigen: «Sie lassen sich nicht reproduzieren.» Und sie zitiert einen Slogan der deutschen Wohnungslosenhilfe: «Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts». 

«Mitholz ist überall» lautet eine Überschrift in der Begleitpublikation. Erzählt wird die Geschichte der Bahnstation Blausee-Mitholz, die ab 1959 als Bausatz für Modelleisenbahn-Landschaften tausendfach in alle Himmelsrichtungen verkauft wurde. Mitholz ist aber auch wegen der Angst um die eigene Wohnung überall. Vertreibung durch Kündigung findet aktuell noch vorwiegend in den Städten statt. Aber in Zentrumsregionen wie dem Kanton Zürich reissen insbesondere institutionelle Eigentümer wie Pensionskassen, Banken, Fonds und Versicherungen auch in kleineren Gemeinden Häuser und Siedlungen ab. 

Während die SVP weiter am Graben schaufelt, der die Menschen in den Landgemeinden von jenen in den Städten trennt, könnten die aktuellen Entwicklungen Anlass sein, Stadt-Land-übergreifend über Heimat und Verwurzelung, Vertreibung und Verlust zu sprechen. Denn nicht nur werden immer mehr Menschen innerhalb der Schweiz durch den Abriss ganzer Häuser und Siedlungen vertrieben – hinzu kommt auch, dass zunehmend Menschen aufgrund von Klimakatastrophen und Kriegen ihre Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen müssen. Die Ausstellung im Alpinen Museum, die bis Juni 2024 läuft, könnte ja vielleicht sogar den Rahmen für solche Begegnungen schaffen. 

«Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz». Ausstellung im Alpinen Museum Bern. Bis 30. Juni 2024.

Um das Vertriebenwerden geht es auch in der Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen». ZAZ Bellerive, Zürich. Noch bis 26. März 2023.  

Autorin: Esther Banz