Lieber zusammen als allein

Die Immobilienlobby greift die Untermiete gesetzlich an, Wohngemeinschaften stehen deshalb unter Druck. Was ginge verloren? Auf Besuch bei verschiedenartigen WGs.

Wohngemeinschaften sind Wohnformen der Zukunft. Sie bedeuten im Kern «zusammen statt alleine» – als Jugendliche, Erwachsene, Familien oder auch Senior*innen. Sie wirken gegen Einsamkeit und ermöglichen generationenübergrei­fenden und interkulturellen Austausch. WGs sind ein Mittel gegen Einsamkeit und soziale Trennung, sie sorgen für besser ausgelastete Wohnflächen und schonen so nicht zuletzt das Klima. Wohngemeinschaften sind sozial und ökologisch sinn­voll. Dennoch haben National- und Ständerat beschlossen, das rechtliche Werkzeug, das es zum Wohnen in Gemeinschaften welcher Art auch immer braucht, weitreichend zu verschlech­tern: die Untermiete. Sie soll künftig willkürlich untersagt werden können. Und wer formale Fehler macht, soll sogar aus­serordentlich gekündigt werden können. Das ist die schärfste Waffe, die das Mietrecht kennt. Angeblich geht es einzig darum, Missbrauch vorzubeugen (Stichwort Airbnb). Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der mächtigen Immobilienwirtschaft geht es vor allem darum, Mieter*innen einfacher kündigen zu können.

Einen Untermietvertrag schliesst ab, wer die Wohnung zeitweise weitervermietet (etwa bei einem mehrmonatigen Studien- oder Arbeitsaufenthalt im Ausland) oder wer sie mit Personen, die nicht zur engsten Familie gehören, teilen will. Der Mieterinnen- und Mieterverband hat gegen die dramati­schen Verschlechterungen des Mietrechts das Referendum ergriffen.

Miteinander statt alleine – im Alter, in der fremden Kultur

«Die Sprache ist ein Türöffner»

Auf ihrem grossen Balkon geniesst Susanne einen unverschämt schönen Aus­blick auf den Vierwaldstättersee, den Pilatus und viele weitere Berge der Inner­schweiz. Sie lebt seit 22 Jahren in der Nähe von Luzern – mit Unterbrüchen, denn die gelernte Pflegefachfrau und spätere Berufsschullehrerin arbeitete zuletzt viele Jahre für Entwicklungspro­jekte in postsowjetischen Ländern. Seit sie pensioniert ist, kann sie ihr Zuhause erst recht geniessen. Aber etwas stimmte nicht mehr. Rückblickend sagt sie: «Je länger, je mehr schienen mir 100 Quad­ratmeter für eine Person nicht mehr zeit­gemäss.» Sie erwog, ihre Wohnung zu teilen, vielleicht mit einer Studentin. Als sie einen Zeitungsartikel zum Projekt «WohnTandem» las, bei dem Menschen ihre Wohnung mit einer Person teilen, die geflüchtet ist, wurde sie aktiv. Am liebsten hätte sie es mit einer Frau versucht – aber Frauen flüchten selten alleine. Durch die Vermittlung der Genossenschaft «Zeitgut Luzern» und den Verein «Hello Welcome» kam schliesslich das WohnTandem mit Hossein zustande.

Hossein ist aus dem Iran geflüchtet. Er lernte in der Schweiz mehrere Asylunter­künfte kennen. Die Zustände und Bedin­gungen taten ihm nicht gut, er kämpfte mit Depressionen. Susanne, die als Deutsch­lehrerin für migrantische Menschen selber schon viel gesehen und gehört hat, ver­stand. Und sie fand: Wenn jemand einen Platz braucht, ist es doch egal, welches Geschlecht diese Person hat. Für Hossein wiederum war das Konzept «Wohngemeinschaft» mit einem Menschen, der nicht zur eigenen Familie zählt, zunächst fremd. Nachdem sie beide ihre leisen inneren Widerstände überwunden hatten und nach der Einwilligung des Amts für Migration zog Hossein ein. Jetzt wohnen sie seit vier Monaten zusammen.

Sie mussten sich finden, die kultu­rellen Unterschiede und der wirtschaft­liche Graben sind gross. Sie haben eine gemeinsame Kasse für Lebensmittel. Susanne kauft gerne Qualitätsprodukte ein – Hossein kann sich nur das leisten, was günstig ist. Nach einem beratenden Gespräch mit den Begleitpersonen des Projekts bezahlt Susanne jetzt einfach etwas mehr in die gemeinsame Kasse ein und achtet auf Aktionen.

Hossein arbeitet als Hilfskoch, im Sommer kann er nach einem Praktikum und Kursen, die ihm sein Arbeitgeber, die Luzerner Stiftung St. Anna, ermöglicht hat, in deren Pflegeheim eine Kochlehre beginnen. Er strahlt, als er von seinem Glück und von seiner Dankbarkeit erzählt. Auch zuhause kocht er oft, manchmal al­lein, manchmal zusammen mit Susanne, die es geniesst, in die persische Kochkunst und Kultur eingeführt zu werden. Hand­kehrum gibt sie ihm Deutsch-Nachhilfe. «Die Sprache ist ein Türöffner», sagt sie, «und zusammen zuwohnen ermöglicht tägliches Reden und Zuhören.» Wie inte­grationsfördernd die WG sein kann, wird klar, als Susanne und Hossein bei einer zweiten Tasse Kaffee und Tee weiterer­zählen: Die behördlichen Briefe, die Hossein erhält, und die Weisungen, die er als Geflüchteter zu befolgen hat, aber auch ganz viele andere administrative Notwendigkeiten – all das ist in einer Fremdsprache schwierig zu verstehen. Susanne weiss das von ihrer Zeit im Aus­land. Nicht zuletzt lernt Hossein durch das Zusammenwohnen auch die hiesige Kultur besser kennen. Er gibt seiner Ver­mieterin und Mitbewohnerin indirekt etwas zurück, indem er sich als Freiwilliger im örtlichen Naturschutzverein sowie bei der gemeinnützigen Organisa­tion «Tischlein deck dich» engagiert. Und ganz direkt, indem er öfter als sie staub­saugt und in der Siedlung bei der Umge­bungsarbeit mithilft. Ausserdem teilt er mit der 73-jährigen Susanne, die seine Grossmutter sein könnte, im Alltag viele fröhliche und auch ernste Momente.

Die beiden stehen jetzt in der Küche. Auch von dort haben Susanne und Hossein Sicht auf den Pilatus. Susanne sagt: «Ich weiss, dass es hinter unseren Bergen eine Welt gibt. Und dass ich sehr privilegiert bin. Und seit Hossein hier lebt, weiss ich, dass diese Wohnform eine Riesenchance für uns beide ist.»

Kreative Städter*innen mit grünem Daumen, jetzt in der Agglomeration

«Zusammenwohnen ist ein Prozess»

Als im vergangenen Mai Tausende Men­schen wegen der Wohnkrise in Zürich auf die Strasse gingen, war auch Lisa (Namen geändert) unter den Protestierenden. Vor zwei Jahren suchten sie und ihr Partner John mit zwei Freundinnen in der Stadt Zürich ein neues Zuhause. Ihre vorherige Wohnung, in der sie als WG gelebt hatten, war ihnen wegen Renovation gekündigt worden. Es zeigte sich bald, dass sie in der Stadt nichts Bezahlbares finden würden, also suchten sie auch ausserhalb und ent­deckten ein Haus mit Garten in der Vor­ortgemeinde Dietikon. Ihre erste Reaktion war: «Dort? Auf keinen Fall!» Doch als sie das freistehende Haus aus den 1950er- Jahren von Nahem sahen, waren sie begeis­tert. Und die private Vermieterin bevor­zugte explizit eine WG. Zu viert zogen sie 2022 ein: Lisa, John und zwei Freundinnen – inzwischen hat es einen Wechsel gegeben, neu ist Emma eingezogen. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch. Die intellektuellen Kulturschaffenden und die bei einer NGO engagierte Landwirt­schaftsexpertin haben beim Gärtnern und nachhaltig gut Essen ein grosses gemein­sames Interesse. Zu Emma gehört auch ein Hund, den die ganze WG innig gern hat. Lisa und John haben sich viele Gedanken über ihr persönliches WG-Leben und das WG-Leben im Allgemeinen gemacht. Als Paar mit anderen zusammen zu wohnen und dann noch mit auf die 40 zugehend – das ist selbst in links-kultu­rellen Kreisen nicht selbstverständlich. Oft werden sie als Erstes gefragt, ob das denn nicht kompliziert und ein wenig mühsam sei in diesem Alter. «Da ist immer so eine Erwartung, Schauergeschichten zu hören», lacht John. Dabei sei Zusammenwohnen doch auch einfach ein Prozess. Lisa über­legt und ergänzt dann: «Wir verbringen als WG klar mehr Zeit damit, uns beim Wohnen zu organisieren und zu schauen, wie es stimmig ist. Wir nehmen alle Raum in Anspruch – dafür ein Gespür zu haben und darüber diskutieren zu können, ist in der WG sicher wichtiger, als wenn ein Paar allein wohnt. Gleichzeitig sind da dafür auch weitere Menschen, mit denen ich leicht einen freundschaftlichen Aus­tausch pflegen kann.» Letztlich sei Zusam­menwohnen immer auch ein Experiment, sagt sie, «wir hatten ja auch Wechsel». Schwierig finden beide, wenn jemand in der WG komplett zurückgezogen lebt, kein Interesse fürs Gemeinsame hat, das mitei­nander Essen und Diskutieren. Bei ihnen ist es auch der Garten, den sie gemeinsam kultivieren. Mit dem Einzug am neuen Ort und wegen der Waldnähe besuchte die ganze WG einen Pilzkurs und geht seither regelmässig pilzlen. Leben mit anderen habe etwas Entschleunigendes, überlegt Lisa, «wohl weil wir dann nicht immer auf uns selber fokussiert sind».

Die WG in Dietikon hat keine Auf­gaben definiert. Auch einen Kochplan gibt es nicht. Es kocht, wer als Erste*r Zeit hat – und Lust. Oder wer eine innere Stimme hört, die sagt: «Ich könnte auch mal wieder.» A propos: Wer gemeinsam kocht und isst, gibt weniger Geld aus. Auch die Kosten für Versicherungen und Neben­kosten teilen sich Wohngemeinschaften. Und zum Ausrechnen der Anteile gebe es praktische Apps wie «Splitwise».

Fraglos, es brauche viel Kommunika­tion, sagt Lisa, und wenn es Unstimmigkeiten gibt, sei miteinander zu reden hilfreicher als passiv-aggressiver Rückzug einer Person. Und was geht gar nicht? «Die liebsten handbemalten Keramiken in der Abwaschmaschine», sagt sie – und er: «frisch geschliffene, wertvolle Küchenmesser zweckentfremden.» In dem hellen und aufgeräumten, mit einfachen Holz- und Stoffmöbeln eingerich­teten Wohnzimmer fällt es leicht, sich wohlzufühlen. Einen Putzfimmel hätten sie aber nicht, sagen die Anwesenden: «Wir pflegen lieber die Gemeinschaft.»

Zusammen die Arbeitsräume teilen

«Die Psychohygiene macht den Mehraufwand wett»

Im Zürcher Kreis 4 hat es zahlreiche einstige Gewerbehäuser und -etagen, in denen Selbstständigerwerbende, Frei­schaffende und Kleinunternehmen unter einem Dach arbeiten. Sie teilen sich die Miete, oft ist eine Person oder Firma Hauptmieterin, die andern sind in Unter­miete. Eine solche Haus-Gemeinschaft befindet sich an der Kanzleistrasse 53. Die digitale Kommunikationsagentur Nemuk mietet das sorgfältig ausgebaute Häus­chen als Ganzes seit rund zwanzig Jahren. Eine Zeit lang war die Firma so gross, dass sie alle drei Etagen für sich selber beanspruchte. Seit Nemuk sich wieder auf ihre Kernkompetenz Marketing- Automation konzentriert, teilt das KMU das Haus mit einer Buchhalterin, wei­teren IT-Spezialisten, Grafikerinnen und einem Architekten. Alle haben ihre eigenen Büros, gemeinsam nutzen sie eine kleine Küche und das Sitzungs­zimmer. Dort essen sie oft gemeinsam zu Mittag. Am Tag unseres Besuchs speist Rémy von Nemuk zusammen mit den Grafikerinnen Doris und Isabel und der Buchhalterin Manuela. Dieser Austausch über Mittag sei enorm wertvoll, sind sich Isabel und Manuela einig.

Es gab auch schon schwierige Zeiten an der Kanzleistrasse 53. Beinahe gab Nemuk das Häuschen auf. Es war zu an­strengend und teuer geworden, Haupt­mieter zu sein, die ganze Verantwortung allein zu tragen – für die Nebenkosten, und vor allem dafür, dass die Miete des ganzen Hauses bezahlt wird, auch wenn es leer stehenden Arbeitsraum hat. Der Entscheid, den Mietvertrag aufzugeben, stand bereits fest, als im letzten Augen­blick ein Architekt sein Interesse am gesamten Erdgeschoss anmeldete. Das war der glückliche Wendepunkt. Die Kündigungsfrist für die bisherigen und den neuen Untermieter wurden an den Hauptmietvertrag angepasst, sodass nun alle Parteien dieselben Bedingungen haben. Mitspracherechte hatten die Un­termieter*innen immer schon, «wir sind auf Augenhöhe, für mich sind alle gleichwertig», sagt Rémy als Haupt­mieter. So empfinden das auch die an­deren. Bei Neubesetzungen schauen sich alle die Interessierten an – sie hätten ein Vetorecht, wenn sie mit der auserwählten Person nicht einverstanden wären.

Die Miete berechnet sich nach dem Anteil der Fläche, die man in An­spruch nimmt, plus variable Kosten pro Person. Für die Reinigung haben sie eine Firma angestellt. Organisatorisches regeln sie unkom­pliziert über einen Haus-Chat oder an sporadischen Sitzungen. Rémy geniesst es, morgens an die Kanzleistrasse zu fahren. So einen Arbeitsplatz zu haben, mit Menschen um ihn herum, mit denen er in Austausch sein kann und gerne ist: das sei ein grosser Mehrwert, sagt der Spezialist für Online-Kommunikation. Die Verwaltungsaufgaben bedeuteten zwar Mehraufwand, aber die Psychohygiene durch reale gute Kontakte mit Menschen mache das längstens wett. Und es sei auch einfach bereichernd, mit Leuten zu reden, die in anderen Berufen tätig sind, «zudem können wir uns gegen­seitig unterstützen, Tipps geben».

Nach dem Mittagessen machen sich alle wieder an die Arbeit. Die Wege sind kurz, die Türen bleiben offen. Es motiviert, selber fleissig zu sein, wenn von nebenan das Tippen auf Tastatur hörbar ist, hier eine seufzt, dort einer lacht.

Zwei Männer wohnen selbstbestimmt mit Assistenz

«Hier entscheiden wir selber»

Die breite Wohnungstüre steht weit offen. Eine Schwelle gibt es nicht und wer von der Laube her eintritt, steht direkt in der grossen Küche. Dort verrenkt sich Kurt Cobain mit E-Gitarre auf einer Bühne. Neben dem gerahmten Poster steht ein Gestell mit Geschirr, Kaffeemaschine und Mikrowelle und rechts davon ein grosser Kühlschrank, darüber in weisser Schrift auf rotem Hintergrund die klare Ansage: «Gourmet Männer WG». Einer der beiden hier lebenden Männer ruft jetzt ‹Hallo!› aus dem Raum hinter der Küche. Es ist Pesche. Ein leises Surren verrät, dass er seinen E-Rollstuhl in Bewegung gesetzt hat. Im Wohn-, das auch ein Arbeitszimmer ist, hat er eine Hälfte des Tisches leer geräumt, auf der andern Hälfte sind fein säuberlich die Sammelkarten seines Mitbewohners gestapelt. «Das ist mein Hobby», sagt Thomas, der nun ebenfalls im Zimmer angekommen ist. Die beiden gleichen sich: millimeterkurze Haare auf dem Kopf und unter dem Kinn, schwarze Brille und ein Gerät, das beim Atmen unterstützt. Beide haben ein Smart­phone, mit dem sie die Wohnungstüre, den Lift und das Licht steuern können.

Pesche ist 36 Jahre alt, Thomas 33. Die beiden kennen sich aus einem Sommer­lager für Muskelkranke, sie waren damals 13 beziehungsweise 10 Jahre alt. Seit fünf Jahren wohnen sie nun zusammen in ihrer 5-½-Zimmer-Wohnung in der autofreien Wohnbaugenossenschaft Oberfeld in Ostermundigen bei Bern. Sie haben 15 As­sistenzpersonen im Teilzeitpensum ange­stellt, die sich in der Betreuung abwech­seln; Pesche und Thomas sind Arbeitgeber (jeder für sich allein, weil die IV es so will). Die Assistenzpersonen kaufen ein, kochen, waschen ab, putzen, machen die Körper- und die Behandlungspflege. In der Nacht ist immer jemand auf Pikett da und wird gebraucht – zum Abhusten, Maske richten, Trinken, Umlagern, für WC-Gänge oder für den Fall, dass ein Atemgerät aussteigen sollte. Eines der Zimmer ist für die Assis­tenzpersonen eingerichtet.

Sowohl Thomas als auch Pesche haben in der Vergangenheit mehrere Jahre im Heim gelebt. Jetzt in einer eigenen Woh­nung als WG zu leben, bedeutet für sie: Freiheit. Die beiden zählen die Unter­schiede auf. Pesche: «Hier kann ich selber entscheiden, wer mich wann, wo und wie pflegt.» Thomas: «Auch wann ich esse – und wie gekocht sein soll.» Pesche: «Und ich entscheide, wann ich zu Bett gehe. Das ist im Heim nur beschränkt mög­lich.» Ausserdem dürfe man im Heim keine Haustiere halten, sagt Thomas – sein Blick wandert hinüber zum Terra­rium. Dort verstecken sich zwei Bart­agamen-Echsen. Die Freunde und Wohnpartner arbeiten auch von zuhause aus, sie haben einst beide die eidgenössi­sche Ausbildung als Kaufmann EFZ abgeschlossen.

Wer zuhause wohnt und Assistenzper­sonen hat, ist selber Arbeitgeber. Pesche berät zudem andere Menschen mit Behin­derungen, die mithilfe von Assistenzper­sonen bereits selbstbestimmt leben oder dies planen. Daneben engagiert er sich auch in der örtlichen SP. Alles von zuhause aus. Thomas und Pesche sitzen im eigentlichen Sinne ganze Tage dicht nebenein­ander. Das gehe grundsätzlich gut, sagen beide, einzig das Weitergeben von Infor­mationen klappe nicht immer reibungslos.

Weniger harmonisch haben sie es bisweilen mit den Behörden – die IV er­höhe die administrativen Hürden immer mehr, und die Ausgleichskasse hat ausgerechnet bei denen, die in WGs wohnen, die Ergänzungsleistungen gekürzt. Für ihre Miete müssen Pesche und Thomas jetzt je 290 Franken monatlich von ihren Lebenshaltungskosten absparen. Wohnten sie im Heim, würde das den Staat deutlich mehr kosten. Doch anstatt sich wieder darüber zu ärgern, zeigen sie auf die schöne Landschaft, die direkt hinter ihrem Haus beginnt und wo sie spazierfahren gehen können, wie es ihnen beliebt.

Wohnen und ein wenig Arbeit: Student wohnt bei Senior

«Ich dachte, ich würde zum Gärtnern und für Reparaturen gebraucht»

Um 18.15 macht es auf Hans’ grosser Ter­rasse zweimal hintereinander «krack!». Mit den beiden Dosen alkoholfreiem Radler prosten sich der 92-Jährige und sein 24-jähriger Mitbewohner Nicola zu. Es ist ein frühsommerlicher Sonntag­abend, im artenreich bepflanzten Garten plätschert ein Brunnen, nach dem Apéro wird Nicola kochen gehen, Hans kann sich auf Pasta an einer Steinpilz-Rahm­sauce mit Broccoli freuen. Zuerst geniessen sie aber ihr Beisammensein und diskutieren – wie an so vielen Abenden. Der Austausch ist für Nicola offiziell Arbeit, Teil der Abmachung: Er ist einer der rund dreissig Studierenden, die im Grossraum Zürich zurzeit bei einer Person im Rentenalter wohnen. Diese spezielle, die Generationen verbindende WG-Form ist ein Projekt von Pro Senec­tute Kanton Zürich und heisst «Wohnen mit Hilfe». Es bedeutet Zimmer gegen Arbeit und dient beiden: Die jungen Menschen haben ein Zuhause, das ihr schmales Budget nicht belastet, die Seni­or*innen erhalten Unterstützung im Alltag – und Gesellschaft; einen Men­schen, der anwesend ist und mit dem sie im Idealfall einen freundschaftlichen Aus­tausch haben. Wie Nicola mit Hans.

Seit genau einem Jahr wohnt der sportliche und politisch interessierte an­gehende Physiker beim früheren Inge­nieur in dessen grosser Eigentumswoh­nung in einer Zürcher Vorortgemeinde. Davor lebte der ETH-Student mit Gleich­altrigen in einer WG in Zürich. Das Haus wurde leergekündigt und abgerissen, Nicola wusste, dass es schwierig würde, in der Stadt etwas Bezahlbares zu finden. Durch Recherche stiess er auf das Wohn- Vermittlungs-Angebot von Pro Senectute. In den Fragebogen schrieb er sinngemäss: «Die Küche mitbenutzen ist mir wichtig, sonst fühle ich mich nicht zuhause. Und waschen will ich auch können.» Bei den Leistungen, die er im Gegenzug zum Wohnen ohne Mietzins erbringen kann, kreuzte er nebst dem Kochen auch Gärtnern und Hausarbeit an. Und Gesell­schaft leisten. Hans interessierte vor allem Letzteres, denn Putz- und Haus­haltshilfen hat er bereits. Er suchte einen jungen Menschen, mit dem er seriös diskutieren kann, wie er sagt, nicht übers Wetter, sondern über aktuelle und rele­vante Themen – und über das Leben.

2021 ist Hans’ Frau an Krebs ver­storben. «Dort fängt die Geschichte an», sagt er. «Ich sah, dass ich nicht alleine bleiben kann. Ich lief im Morgenmantel herum, rasierte mich nicht mehr richtig und ass unregelmässig. Ich verstand: Das ist nicht gut, ich werde vergammeln.» Als einer, der vier Zeitungen abonniert hat, wusste er auch um die Wohnkrise in Zürich. Mit einer ersten Mitbewohnerin machte Hans gute Erfahrungen. Als sie auszog, um mit ihrem Freund zusam­menzuziehen, suchte er umgehend je­mand Neues. Nicola und er verstanden sich auf Anhieb. Beide sind offen, interes­siert, kommunikativ und unkompliziert – und das seien auch die Voraussetzungen, damit das Zusammenwohnen klappt, findet Nicola. Die Arbeitszeit ist von Pro Senectute Kanton Zürich auf einfache, aber klare Art in einer Vereinbarung gere­gelt: eine Stunde monatliche Arbeit pro Quadratmeter eigenes Zimmer. Nicolas Zimmer und Bad sind 20 Quadratmeter gross; bei 16 Stunden deckelt Pro Senec­tute die Arbeitsleistung und mehr er­wartet Hans auch gar nicht. Überhaupt werde bei ihnen nicht gerechnet. Mit dieser Art des Wohnens gewinne er wahn­sinnig viel, sagt Hans. Der Austausch halte ihn lebendig und wach. Dass er dafür sein Intimstes teilt, die eigene Woh­nung, ist für ihn kein Kompromiss, son­dern ein Gewinn. Einzig das Badezimmer wäre er nicht bereit zu teilen, «das ist dann doch zu intim» sagt er und lacht. Und Nicola sagt: «Ich kann so wohnen, wie ich möchte, und komme gerne nach Hause. Selbstverständlich passe ich mich auch ein wenig an – wie man das in jeder WG tut.» Sie sehen sich meistens erst abends, denn Nicola geht früh aus dem Haus. Mehrmals in der Woche kommt er am frühen Abend mit den Zu­taten für den Znacht nach Hause, den er kochen wird. Davor trinken sie aber noch gemütlich das alkoholfreie Radler. «Das ist unser Grundnahrungsmittel», scherzt der Student. Er habe gedacht, er würde zum Gärtnern und Reparieren gebraucht, «und jetzt ist es einfach das Reden». Beide lachen herzlich und ehe Nicola für kurze Zeit in der Küche verschwindet, nimmt er noch einen Schluck.

Text und Bilder: Esther Banz