«Ich musste auf ein wild galoppierendes Pferd aufspringen» 

Energiekrise, Wohnungskrise, steigender Referenzzins, Doppelreferendum: Linda Rosenkranz’ erste anderthalb Jahre als Generalsekretärin waren ziemlich ereignisreich. Im Gespräch mit M+W schaut sie zurück – und wirft einen Blick auf das, was uns bevorsteht. 

Linda, kurz nachdem du Generalsekretärin wurdest, gingen zuerst die Energiepreise durch die Decke, dann sprachen plötzlich alle von der Wohnungskrise und Anfang Juni respektive Dezember wurde auch noch der Referenzzinssatz erhöht. Du hattest einen steilen Einstieg, oder täuscht das? 

(Lacht.) Nein, das täuscht überhaupt nicht. Ich bin mit dem Jobwechsel nicht wie erwartet auf ein neues Rössli gestiegen, sondern musste auf ein wild galoppierendes Pferd aufspringen. Das war sehr anspruchsvoll, aber auch sehr spannend. Ich wusste vom ersten Tag an, dass das, was wir hier machen, für die Mieter*innen wirklich wichtig ist. 

Was hat dein erstes Jahr von all dem am meisten geprägt? 

Die Energiepreise waren im Winter das ganz grosse Thema. Wir sagten eigentlich immer wieder dasselbe: Es geht nicht, dass die Mietenden sparen und sogar frieren müssen, während die Wirtschaft als grösste Energieverbraucherin geschont wird. Was – zusätzlich zu den Energiepreisen – Druck gemacht hat, vor allem auf die Sektionen, waren der Anstieg des Referenzzinses und Ende Jahr die beiden Referenden. Für sie haben wir innerhalb der Hälfte der Sammelfrist zweimal knapp 80 000 Unterschriften zusammengebracht – ich bin noch immer überwältigt. 

Hast du daneben noch Zeit gefunden, diesen grossen Verband kennenzulernen? 

Ich kam beruflich von einem ganz anderen Ort. Nur dank dem grossen Wissen in den Sektionen konnte ich mich in einem einigermassen brauchbaren Tempo einarbeiten. Dabei lernte ich gleichzeitig die Leute kennen. Die Besuche bei den Sektionen haben mich sehr «gebödelet». 

Inwiefern? 

Ich war am Anfang zu Besuch bei Rechtsberaterinnen und erzählte ihnen etwas über die Mietzinsspirale und die Marktlogik bei den Mieten, die wir durchbrechen müssen. Die schauten mich an und sagten: Linda, unser Problem ist im Moment der Schimmel. Wegen der explodierenden Energiekosten lüften die Mieter*innen weniger, wodurch das Problem noch grösser wird. Das hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die unterschiedlichen Ebenen unseres Verbands zusammenzubringen. Und dass wir hier im Generalsekretariat die Bodenhaftung nicht verlieren dürfen. 

Wie schaffst du im Gegenzug Verständnis für das, was ihr hier macht? 

Indem ich mit den Leuten rede. Meine Erfahrung zeigt mir, dass man so für viel gegenseitiges Verständnis sorgen kann. 

Das letzte Jahr stand medial auch im Zeichen der Wohnungsknappheit. Bundesrat Parmelin lud zweimal zu einem runden Tisch. Du warst für den MV dabei, wie war das? 

Der runde Tisch wäre eine grosse Chance gewesen, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen und Lösungen zum Thema Wohnraum zu suchen. Es ist extrem schade, ging es dann fast nur um die Frage des Baus von neuen Wohnungen und so wenig darum, wie wir bestehenden Wohnraum erhalten können, und zwar bezahlbar – also auch darum, wie der Bund endlich die missbräuchlichen Renditen bekämpfen kann. Diese Chance hat Bundesrat Parmelin vertan, was ich mehr als schwach finde von unserem Wohnminister, dessen oberste Priorität bezahlbares und qualitativ gutes Wohnen sein müsste – das gibt ihm nämlich sein Pflichtenheft, also unsere Verfassung, so vor. 

Wie verschafft man sich als Vertreterin der Mietenden in der Politik Gehör? 

Wir müssen uns bewusst machen, welches unsere wichtigsten Botschaften sind, und diese immer und immer wieder sagen. Wichtig ist auch, dass wir Referenden ergreifen, Initiativen lancieren und parlamentarische Vorstösse zu unseren Anliegen einreichen. Damit können wir zeigen, dass man nicht an den Mietenden vorbeikommt. Ich bin ausserdem überzeugt, dass es einen sozialpartnerschaftlichen Dialog braucht. Das ewige Gegeneinander mit dem Hauseigentümerverband nützt niemandem in diesem Land etwas. Eigentümer*innen und Mietende haben oft an ähnlichen Orten Probleme – wenn etwa die Hypothekarzinse steigen, betrifft das beide. Dafür sozialpartnerschaftliche Lösungen zu finden, wäre im Interesse aller. 

Mit sozialpartnerschaftlich meinst du, dass nach dem Vorbild von Arbeitgeber-und Arbeitnehmerseite verhandelt werden sollte? 

Ja. Das ist etwas so typisch Schweizerisches: Ich gebe dir das, dafür gibst du mir davon etwas. Bei den Gewerkschaften spricht man vom sozialen Frieden, man könnte doch auch einen Wohnfrieden anstreben. Was passiert, wenn dieser nicht vorhanden ist, sieht man etwa in Deutschland, wo die Leute auf die Strasse gehen, weil die Mieten explodieren. Ich glaube, wir sind auch in der Schweiz nicht sehr weit davon entfernt. 

Gerade im Parlament machen die HEV-Vertreter*innen im Moment aber einfach ein Powerplay. Sie wissen, dass sie sowieso durchkommen. 

Sie sind am längeren Hebel, weil sie viel mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben und im Parlament viel mehr Vertreter*innen haben. Das heisst nicht, dass wir nicht schlauer sein können. Wir müssen die Verbandelungen in der Politik aufzeigen. Die Leute müssen merken, dass Lobbying nicht nur bei der Pharma oder bei den Versicherungen existiert, sondern dass gerade der Immobiliensektor eine gewaltige Lobby hat. Gleichzeitig müssen wir Leute aus den Mitte-Parteien finden, die mit uns zusammenarbeiten. Es ist für mich noch immer ein riesiges Fragezeichen, warum auf nationaler Ebene niemand ausserhalb der links-grünen Parteien die Anliegen der Mietenden unterstützt. Unsere Basis ist im politischen Spektrum von ganz links bis ganz rechts angesie-delt und es wäre wichtig, dies auch in unserer Arbeit und in unseren Strukturen abzubilden. 

In der zweiten Jahreshälfte kommt das Doppelreferendum gegen zwei Vorstösse der Immobilien-Lobby zur Abstimmung. Seid ihr bereit für die Kampagne? 

Ja! Gerade im Zusammenhang mit der Wohninitiative, die 2020 zur Abstimmung kam, wurde unglaublich viel Vorarbeit geleistet, auf die wir nun zurückgreifen können. Mit dieser Kampagne ist es aber noch nicht getan. Während wir dieses Interview führen, schreibt meine Kollegin Pauline eine Vernehmlassungsantwort zum nächsten Gesetzesentwurf. Gegen diesen werden wir erneut das Referendum ergreifen müssen. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren eine Kampagne nach der anderen führen müssen. Das hat uns das bürgerliche Parlament so aufgedrückt. Um effizienter zu sein, müssen wir mehr Dinge selber machen können. Schliesslich ist jeder Franken, den wir hier ausgeben, ein Franken, den uns ein Mitglied gegeben hat. Und wir haben eine grosse Verantwortung, möglichst viel daraus zu machen. 

Wie erklärt man den Stimmberechtigten so etwas Technisches wie das Mietrecht? 

Ich glaube, das menschliche Hirn ist auf praktische Beispiele angewiesen. Wenn ich sehe: Die Verschlechterung bei der Untermiete könnte mich oder meine Tochter oder meinen Neffen betreffen, bekomme ich ein Verständnis für diesen Teil des Mietrechts. Diese Beispiele müssen wir in einer Sprache erzählen, die einfach, aber nicht populistisch ist, zum Beispiel in einem Erklär-Video. Vor Kurzem haben wir darum mit Luca eine neue Person eigens für den Online-Bereich angestellt. Mithilfe von Umfragen testen wir zudem, welche Argumente bei den Leuten gut ankommen. 

Du hast es erwähnt, nach den ersten beiden Referenden folgt sehr wahrscheinlich ein weiteres. Warum muss der MV zu jeder Änderung des Mietrechts ein eigenes Referendum ergreifen? 

Das ist die unsägliche Salamitaktik der Immobilien-Lobby: Änderungen an einem einzigen Gesetz werden in drei Teile aufgespaltet. Zu jedem Teil müssen wir ein Referendum ergreifen und die Stimmbevölkerung muss jedes Mal an die Urne rennen. Der Bund wiederum muss dreimal prüfen, ob die Unterschriften gültig sind, dreimal eine Abstimmung vorbereiten, dreimal die Versandkosten aufwerfen. Das ist unverantwortlich gegenüber der Stimmbevölkerung und ein demokratiepolitischer Skandal, den man nicht genug betonen kann. Mir ist kein ähnlicher Fall in der Schweizer Politik bekannt. 

Was bezweckt die Immobilien-Lobby mit dieser Taktik? 

Dass sie jedes Mal sagen können: Es geht ja nur um den Eigenbedarf, es geht ja nur um die Untermiete, es geht ja nur darum, dass wir saubere Statistiken bekommen. Was sie eigentlich bezwecken, ist die Verstärkung der Marktlogik bei den Mieten – und damit eine weitere Explosion der Mietzinse. Es gibt aber keinen funktionierenden Markt bei den Mieten. Sonst wären ja die Mieten gesunken, als der Referenzzins sank. Das Gegenteil war der Fall. Und ein Marktgedanke beim Wohnen macht auch grundsätzlich keinen Sinn, denn Wohnen ist nicht etwas, auf das ich Lust habe, das ich wählen kann. Ich muss wohnen. Wir sind darauf angewiesen, dass wir gesetzeskonforme Mietzinse bezahlen – ohne zu hohe Renditen. Darum engagiert sich der MV so stark gegen diese Gesetzesänderungen: Wir müssen verhindern, dass die Mietenden mit ihren Mietzinsen die überrissenen Renditen der Immobilienkonzerne bezahlen. Und darum erarbeiten wir zurzeit eine Initiative, die eine Kontrolle genau dieser zu hohen Renditen fordert. 

Wo steht die Initiative zurzeit? 

Die Sektionen haben Mitte Februar über mögliche Bausteine diskutiert. Auf der Grundlage dieser Diskussionen findet nun eine zweimonatige Konsultation statt. Wie die Initiative am Ende aussieht, entscheiden die Sektionen. Sie fühlen den Puls der Mitglieder und sie sind es, die letztlich die Unterschriften sammeln müssen. Wir können noch so gute Ideen haben in diesem Büro, wenn die Sektionen sie nicht mittragen, sind sie für gar nichts. 

Was steht 2024 sonst noch an? 

Wie alle grossen Verbände wollen wir unsere Strukturen und Prozesse modernisieren. Das heisst vor allem, dass wir unsere Dienstleistungen möglichst effizient erbringen wollen. Ein Ziel ist, die inhaltliche Koordination zwischen den Sektionen zu verbessern. Der MV in Neuenburg muss wissen, was der MV in Luzern grad für eine Initiative ausgearbeitet hat. Wir als Dachverband haben die Übersicht und es ist unsere Aufgabe, dies zu koordinieren. Es ist mir ein sehr grosses Anliegen, die Sprachgrenzen zu überwinden, die kulturellen Unterschiede der Sprachregionen zu nutzen und voneinander zu lernen. Das leben wir hier im Generalsekretariat im Kleinen bereits vor. 

Gespräch: Andrea Bauer