Fragwürdige Geschäfte mit Zwischennutzungen

Seraina Rohner in ihrer Schreinerei: Sie und Manuel Perriard dürfen bis 2027 bleiben. Bild: Isabel Plana

Der Zürcher Wohnungsmarkt ist so umkämpft, dass selbst mit Zwischennutzungen Geld gemacht wird. Am Sihlquai wurde den Mietenden gekündigt, um die Wohnungen zu einem höheren Preis befristet unterzuvermieten. Die Betroffenen haben sich gewehrt – mit Erfolg.

Es ist ein Kampf wie David gegen Goliath, der seit bald zwei Jahren am Zürcher Sihlquai ausgefochten wird: Auf der einen Seite zwei Mietshäuser, die, 1899 für die Fabrikarbeiter erbaut, von der Industriegeschichte Zürichs zeugen. Nebenan das übermächtige, mit seinen 118 Meter hohen Betonmauern fast schon bedrohlich wirkende Getreidesilo von Swissmill, das seit 2016 das Zürcher Stadtbild prägt. «Dort oben hat alles angefangen.» Seraina Rohner deutet zum Siloturm hoch. Sie steht in der Tür ihrer Schreinerei, die seit den 70er-Jahren im Erdgeschoss der Nummer 280 untergebracht ist. Als sie den Betrieb vor fünf Jahren mit einem Kollegen übernahm, hätte sie nicht gedacht, dass ihnen bald das Aus drohen könnte.

Es war Ende Oktober 2020, als Coop-Immobilien, Eigentümerin und Vermieterin der beiden Häuser, zu einem Info-Treffen in den Turm lud, um den Mieter*innen mitzuteilen, dass die total 15 Wohnungen und die Gewerberäumlichkeiten der Schreinerei demnächst gekündigt würden. Die Nachbarin Swissmill, eine Division der Coop Genossenschaft, brauche Platz für Büros und Labors, hiess es. Knapp einen Monat später folgte die schriftliche Kündigung der Wohnungen, und zwar bereits per Ende März 2021. Eine äusserst kurze Frist für die in bescheidenen Verhältnissen lebenden, teils langjährigen Mieterinnen, die bei den aktuellen Mietpreisen nicht so schnell eine passende Alternative finden würden. In der Zwischenzeit hatten diese sich bereits mobilisiert, um die beiden Wohnhäuser zu retten. Sie schrieben einen Brief an den Stadtrat, gingen an die Medien, organisierten eine Kundgebung.

Seraina Rohner war eine der treibenden Kräfte hinter diesem Widerstand. «Wir haben gleich nach der Mieter*innen-Info im Oktober den Kontakt zum Mieterinnen- und Mieterverband gesucht. Von den 15 Parteien haben dann 10 die Kündigung angefochten und eine Erstreckung verlangt.» Mit unterschiedlichem Ausgang. Manche erzielten mit Coop Immobilien aussergerichtlich einen Vergleich, eine Partei zog dafür bis vor Mietgericht. «Die anderen – vor allem ältere Mieterinnen – warteten das Schlichtungsverfahren nicht mehr ab und zogen aus, weil sie Angst hatten, am Schluss ohne Wohnung dazustehen», erinnert sich Rohner. Im April 2021 war gut die Hälfte aller Parteien ausgezogen.

David gegen Goliath: Vorne die beiden Wohnhäuser, hinten der Siloturm von Swissmill Bild: Isabel Plana

Ein Schlag ins Gesicht 

Anfang Mai machte eine Bekannte Rohner auf ein Wohnungsinserat aufmerksam. «Es waren Bilder von den Wohnungen am Sihlquai 280/282, vermietet wurden sie aber nur zimmerweise, befristet bis März 2022.» Und zwar nicht von Coop, der Eigentümerin, sondern von Intermezzo, einer Firma, die sich um die Zwischennutzung leerstehender Immobilien kümmert. «Wie wir später erfahren haben, waren die Zimmer überteuert im Vergleich zum früheren Mietzins. Und in manchen Wohnungen haben sie sogar eine zusätzliche Wand eingezogen, um noch mehr Zimmer vermieten zu können.» Rohner schüttelt den Kopf. «Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht für die alten Mieter*innen, die innerhalb weniger Monate rausgedrängt wurden.»

Kurz darauf zogen die ersten neuen Bewohnerinnen ein, mehrheitlich Student*innen und junge Leute, die froh waren, überhaupt etwas Zahlbares in der Stadt gefunden zu haben. So wie Christoph Huber, der aus seiner alten WG ausziehen musste und auf die Schnelle etwas Neues brauchte. «Die Wohnung hat mir gut gefallen und die Lage auch, weil einige Freunde in der Nähe wohnen.» Als die Häuser wenige Tage nach der Wohnungsbesichtigung kurzzeitig besetzt wurden und er erfuhr, was dahintersteckte, zögerte Huber. «Im ersten Moment dachte ich, ich suche mir besser etwas anderes. Am Ende bin ich dann aber trotzdem eingezogen, nicht zuletzt deshalb, weil ich den juristischen Kampf der bestehenden Mieter*innen unterstützen wollte. Ich bin der Überzeugung, dass man sich dagegen wehren muss, dass günstiger Wohnraum verloren geht und mit Zwischennutzungen Profit gemacht wird.»

Eigentlich sind Zwischennutzungen ja eine gute Sache, das finden sowohl Seraina Rohner als auch Christoph Huber. Gerade in einer Stadt wie Zürich, wo bezahlbarer Wohnraum ein knappes Gut ist, ist es zu begrüssen, dass Wohnungen nicht über Monate oder Jahre bis zum Baubeginn leer stehen, sondern zu günstigen Konditionen verfügbar bleiben. Problematisch wird es dann, wenn Zwischennutzungen kommerzialisiert werden, wenn profitorientierte Firmen wie Intermezzo daraus ein Business machen – auf Kosten der Mieter*innen mit befristetem Vertrag – und darüber hinaus in Konkurrenz treten mit nichtgewinnorientierten, gemeinnützigen Institutionen. Es sei wegen der zusätzlichen Akteure im Zwischennutzungsmarkt in den letzten Jahren spürbar schwieriger geworden, Wohnraum zu mieten, sagt etwa Patrik Suter, Geschäftsführer des Jugendwohnnetzes Juwo, das jungen Menschen in Ausbildung günstige Wohnungen bietet.

Mangelnde Planungssicherheit als Grund

Dass das Geschäftsmodell von Firmen wie Intermezzo funktioniert, hat einerseits mit der Wohnungsnot – oder, besser gesagt, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Zürich zu tun. Aber nicht nur. Der andere Grund ist ein juristischer. Hauseigentümer*innen befinden sich vor einem geplanten Bauprojekt in einem Clinch: Einerseits wollen sie ihre Liegenschaft nicht über längere Zeit unbewohnt lassen, wegen finanzieller Einbussen, aber auch weil dadurch, wie im Fall des Sihlquai 280/282, die Gefahr einer Hausbesetzung droht. Andererseits sind sie darauf angewiesen, dass am Tag des Baubeginns alle Parteien ausgezogen sind, damit die Arbeiten planmässig starten können. Darauf ist allerdings kein Verlass. «Denn Mieter*innen, auch solche mit befristeten Mietverträgen, haben das Recht, eine Erstreckung des Mietverhältnisses zu verlangen», erklärt Peter Nideröst, Vertrauensanwalt des MV, der die Betroffenen im Fall Sihlquai 280/282 vertritt. Bis ein Erstreckungsgesuch entschieden ist, können die Mieter*innen in der Wohnung bleiben – was ein Bauprojekt verzögert. Um diesem Problem beizukommen, wurde das Mietrecht um eine Bestimmung ergänzt, die eine Erstreckung bei befristeten Mietverträgen im Fall eines bevorstehenden Umbau- oder Abbruchvorhabens ausschliesst. «Allerdings ist diese Bestimmung so unklar und widersprüchlich formuliert, dass sie sich juristisch aushebeln lässt», sagt Nideröst. «Hauseigentümerinnen haben somit im Hinblick auf ihr Bauprojekt keine Planungssicherheit. Und das öffnet Tür und Tor für solche Konstrukte, wie wir sie beim Sihlquai sehen.»

Fragwürdiges Geschäftsmodell

Dieses Konstrukt sieht folgendermassen aus: Intermezzo springt als Hauptmieterin in die Bresche und vermietet die Wohnungen unter – gewinnbringend, versteht sich. Weil die Untermiete gemäss Gesetz nur für die Dauer des Hauptmietverhältnisses erstreckt werden kann, garantiert Intermezzo den Eigentümerinnen, dass die Liegenschaft zum Ende des Hauptmietvertrags leer ist und die Bauarbeiten planmässig starten können. Ein guter Deal für beide Seiten. Die Sache hat aber einen Haken. «Wenn eine Untermiete hauptsächlich dazu dient, den Kündigungsschutz zu umgehen – und das ist bei diesem Konstrukt von Intermezzo meiner Meinung nach der Fall –, können Untermieter*innen eine Erstreckung über das Hauptmietverhältnis hinaus verlangen», erklärt Nideröst.

Genau das haben Christoph Huber und fünf weitere Untermieter*innen des Sihlquai 280/282 gemacht. Die Sache wurde mit einem Vergleich beigelegt, Coop Immobilien zahlte ihnen eine finanzielle Entschädigung und gewährte eine Mieterstreckung bis Ende Juli. «Wir haben damit erreicht, dass Intermezzo das Versprechen an ihre Kundin – nämlich dass die Liegenschaft zum vereinbarten Zeitpunkt leer ist – nicht einhalten konnte. Ihr Image ist damit angekratzt», sagt Huber.

Showdown vor dem Mietgericht

Noch offen ist die Verhandlung des Anfangsmietzinses, den die sechs Untermieter*innen ebenfalls angefochten haben. Intermezzo vermietete praktisch alle Wohnungen zimmerweise unter, für 710 bis 790 Franken pro Zimmer – an Coop zahlte sie für die gesamte Wohnung jedoch nur 850 Franken. So gross sei der administrative Aufwand für die Untermiete nicht, dass sich eine solche Marge rechtfertigen liesse, findet Nideröst. «Zum überzogenen Mietpreis kommen noch formale Fehler im Untermietvertrag dazu, unter anderem hat Intermezzo den früheren Mietzins nicht angegeben.»

Christoph Huber (Name geändert) zog den Fall aus Überzeugung ans Mietgericht weiter. Bild: Isabel Plana

Die Chancen, dass die sechs Untermieter*innen mit ihrer Anfechtung Erfolg haben, stehen so gut, dass Intermezzo ihnen auch hier ein finanzielles Angebot für einen Vergleich gemacht hat. Drei Untermieter*innen haben das Angebot angenommen, die anderen drei nicht, sie ziehen den Fall weiter vors Mietgericht, so auch Christoph Huber – aus wohn- politischer Überzeugung, wie er sagt. «Mir geht es nicht um Geld, sondern darum, etwas zu verändern.» Peter Nideröst rechnet damit, dass Intermezzo ihr finanzielles Angebot erhöhen wird, um einen Vergleich zu erzielen. «Sie wollen um jeden Preis verhindern, dass es zu einem Urteil kommt. Denn dies hätte Signalwirkung und würde de facto das Aus für ihr Geschäftsmodell bedeuten.» Selbst wenn die drei verbleibenden Untermieter*innen am Ende doch noch auf einen Vergleich eingehen und damit auf ein Urteil verzichten sollten, hätten sie mit der Anfechtung einen wichtigen Teilerfolg erzielt, sagt der Anwalt. «Ich bin überzeugt, dass diesem Geschäftsmodell ein Riegel geschoben werden muss. Das gelingt aber nur, wenn sich die Leute auch bei Zwischennutzungen wehren, damit Fälle wie dieser ausgefochten und publik gemacht werden.»

Wie der Kampf zwischen David und Goliath in diesem Fall ausgeht, werden also spätestens die Verhandlungen am Mietgericht Ende Jahr zeigen. Das ultimative Ziel, die Wohnungen am Sihlquai 280/282 zu erhalten, mussten die Bewohner*innen bereits letztes Jahr begraben. Coop hat die Baubewilligung erhalten und diesen April mit den Bauarbeiten begonnen, obwohl drei Wohnungen noch bewohnt waren – zwei bis Ende Juli, eine sogar bis Ende September. Und auch die Schreinerei von Seraina Rohner und Manuel Perriard ist immer noch in Betrieb. Weil die Kündigung unzulässig gewesen wäre – innerhalb der ersten fünf Jahre ist im Geschäftsmietvertrag ein Kündigungsschutz festgeschrieben, und die Option auf Verlängerung wurde ebenfalls missachtet –, zog Coop Immobilien die mündliche Kündigung schnell wieder zurück. Die Schreinerei am Fluss kann noch bis 2027 bleiben. Das erschwert die Bauarbeiten, für die nun extra Verstärkungen und Sicherheitsvorkehrungen nötig sind, damit die Decke der Schreinerei nicht durchbricht. «Das fühlt sich für uns wie ein kleiner Triumph an», meint Seraina Rohner schmunzelnd.

*Name von der Redaktion geändert

Text: Isabel Plana