«Es herrscht ein Klima der Konfrontation»

MV-Präsident Carlo Sommaruga an der Generalversammlung in Biel. Foto: Manu Friederich

Was hat das Parlament in den letzten vier Jahren für die Mietenden getan? Und wie sieht es beim Wohnungsminister Guy Parmelin aus? MV-Präsident Carlo Sommaruga zieht Bilanz.

Carlo Sommaruga, mit den eidgenössischen Wahlen endet im Oktober eine ereignisreiche Legislatur. Wie fällt die Bilanz der letzten vier Jahre für die Mietenden aus?

Wir haben im Parlament eine extrem aggressiv auftretende Immobilienlobby gesehen. Wir von der Mieter*innenseite haben im Gegenzug alles unternommen, um die anhaltenden Angriffe auf das Mietrecht abzuwehren. Parallel dazu haben wir wichtige Vorstösse zugunsten der Mietenden eingereicht: Wir forderten Mietzinsreduktionen für die Zeit der Pandemie, Zuschüsse für einkommens­schwache Haushalte, als die Strompreise explodierten, oder eine Mietzinskontrolle gegen die überhöhten Mieten. Die Par­lamentsmehrheit hat keine Rücksicht auf die Mieter*innen genommen und sämt­liche Vorstösse abgelehnt.

Dass die Interessen der Mietenden im Par­lament keine Mehrheit finden, ist nicht neu, oder?

Nein. Diese Kräfteverhältnisse gibt es bereits seit Jahrzehnten. Neu ist die Aggressivität der Rechten in Bezug auf Immobilienfragen. Der Grund ist, dass sich in den letzten zwanzig Jahren die Eigentumsverhältnisse auf dem Woh­ nungsmarkt stark verändert haben – von privaten hin zu institutionellen Eigen­tümern. Früher waren vor allem die Interessen der kleinen privaten Eigentümer*innen im Parlament vertreten und es kamen Kompromisse zustande. Heute geben die Immobilieninvestoren den Ton an. Ihr einziges Ziel ist es, die Renditen zu maximieren. Die Idee des Mietrechts, wonach die Miete die Kosten decken und eine angemessene Rendite zulassen soll, interessiert sie nicht. Dadurch ist die Dynamik im Parlament viel aggressiver geworden.

Werden wir konkret: Wer sind die Ver­treter*innen des Immobilienkapitals im Parlament?

Diejenigen, die sich seit jeher für die Interessen der Mietenden, für bezahlbare Wohnungen, für die Verteidigung des Mietrechts starkmachen, das sind die SP und die Grünen. Die anderen Parteien – SVP, FDP, Mitte – stimmen systematisch gegen eine Verbesserung der Rechte der Mietenden. Selbst in Krisensituationen. Die Grünliberalen haben zwar einzelne Male mit uns gestimmt, grundsätzlich ge­ hören aber auch sie zur zweiten Gruppe.

Eigentlich ist es verrückt, es geht umdie Interessen von 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung, und nur zwei Parteien ver­treten sie …

Vor vierzig, fünfzig Jahren gab es in der damaligen CVP noch eine relativ starke christlich­soziale Strömung, die sich um die Interessen der Mietenden kümmerte und Kompromisse ermög­ lichte. Auch bei den Freisinnigen und insbesondere den Liberalen gab es huma­ nistische Vertreter*innen, die Kompro­ misse schmiedeten. Das ist vorbei. Heute herrscht ein Klima der Konfrontation. Die Immobilienlobby hat begriffen, dass sie eine solide Mehrheit im Parlament hat, mit der sie ihre Interessen durchsetzen kann. Und der Druck der Investoren ist gross: Es gibt null Handlungsspielraum.

Auch auf das Bundesgericht können sich die Mietenden immer weniger verlassen, stimmt dieser Eindruck?

Parallel zur Polarisierung in der Politik hat eine Polarisierung im Mietrecht statt­ gefunden. Das Bundesgericht bildet die politischen Kräfteverhältnisse ab undist heute auf der Seite des Immobilien­ kapitals. Das war früher nicht so. Es war ziemlich schockierend, mitansehen zu müssen, wie es 2020 einen Entscheid des Parlaments über einen Vorstoss aus HEV­ Kreisen quasi vorweggenommen hat, indem es die zulässige Rendite auf 2 Pro­zent über dem Referenzzins erhöhte – genau wie es der Vorstoss verlangte, der am Ende vom Parlament abgelehnt wurde.

Wie fällt die Bilanz des Wohnungsminis­ters, SVP-Bundesrat Parmelin, aus?

Bundesrat Parmelin hat nichts unter­nommen, um die Situation der Mie­tenden zu verbessern: weder während der Covid­-Krise noch gegen unrechtmäs­sige Renditen oder hohe Energiepreise. Er macht Politik nach dem Motto «Der Markt wird es regeln». Damit unterstützt er die Immobilienkreise und die Eigen­ tümerseite. Anfang Legislatur hatte er an­ gekündigt, sich für mehr bezahlbaren Wohnraum einzusetzen, heute sind wir auf dem gleichen Niveau. Dabei hätte er viele Möglichkeiten gehabt zu handeln: über die Verbesserung des Mietrechts, die Einführung eines Vorkaufsrechts für Gemeinden und Kantone oder den Bau von Wohnungen auf dem Boden von staatsnahen Betrieben wie SBB oder Post. Aber nein, null Initiative vonseiten Herrn Parmelins für eine Mehrheit der Bevöl­ kerung. Das ist unverantwortlich.

Immerhin hat er im Mai einen runden Tisch zum Thema Wohnungsknappheit organisiert. Bald sollen Vorschläge kommen, wie die schwierige Situation verbessert werden kann …

Der runde Tisch von Bundesrat Par­ melin glich eher einer Runde unter dut­ zenden Freunden: Investoren, Bauherren, Verwalter, die alle mehr oder weniger das Gleiche sagten. Auf der anderen Seite wir, die Genossenschaften und die Cari­tas, die auf das soziale Problem der steigenden Mieten hinweisen wollten. An diesem runden Tisch sollten im Prinzip nur die Immobilienkreise und wir sitzen und über die Mieten verhandeln. Die Löhne werden ja auch von Arbeit­ geber­ und Arbeitnehmerseite bilateral ausgehandelt, und man lädt nicht noch andere Akteure dazu ein. Aus meiner Sicht hat Herr Parmelin diesen runden Tisch sowieso nur lanciert, um davon abzulenken, dass er nichts tut.

Ist das Problem nicht auch, dass die Analyse der aktuellen Situation unterschiedlich ausfällt? Die Bauwirtschaft will einfach nur bauen, bauen, bauen, der MV aber will bezahlbare Wohnungen.

Die Bauwirtschaft klagt immer über die Raumordnung, über Einsprachen, lange Fristen. Nur: Vor zehn Jahren hatten wir genau die gleichen Gesetze, und es wurde gebaut wie wild. Das Pro­ blem ist: Die Bauwirtschaft, Gemeinden und Kantone und auch Bundesrat Par­ melin wollen bauen, die Investoren an ihrer Seite wollen Rendite. Wenn wir also einfach mehr Wohnungen erstellen, entstehen vor allem teure Wohnungen. Der Markt regelt es eben nicht, wie Herr Parmelin denkt. Die einzige Lösung in der aktuellen Situation ist, mehrgemein­ nützigen Wohnraum zu erstellen, dessen Mieten nach dem Kostenprinzip be­ rechnet werden, nicht nach dem Marktprinzip.

Ende September wird der MV ein oder zwei Referenden ergreifen müssen, nächstes Jahr folgen weitere plus eine eigene Initiative. Findet die Politik des MV in den nächsten Monaten ausserhalb des Parlaments statt? 

Wir müssen weiterhin im Parlament gegen Verschlechterungen kämpfen. Aber die Entscheide werden an der Abstim­mungsurne fallen, ja. So wie die Lage heute ist, werden wir nicht nur die Refe­renden gewinnen, wir können im Kampf gegen zu hohe Mieten auch eine Mehr­heit der Bürger*innen und der Kantone hinter uns scharen und mit unserer Initia­tive für eine automatische Mietzins­kontrolle die Regeln ändern.

Am 16. September war der MV zusammen mit dem Gewerkschaftsbund und anderen Organisationen an der nationalen Kauf­kraft-­Demonstration präsent. Entwickeln sich hier neue Allianzen für die Zukunft?

Die Zusammenarbeit mit Gewerk­ schaften und anderen progressiven Kräften gab es bereits in den 70er-­ und 80er­-Jahren. Angesichts der schwierigen Situation haben wir sie wiederaufge­nommen. Viele Haushalte stehen unter grossem Druck. Auf der einen Seite stag­nieren Löhne und Renten, auf der an­ deren Seite steigen Krankenkassenprä­mien, Energie­ und Lebensmittelpreise und eben auch die Mieten. Die Zusam­menarbeit mit den Gewerkschaften ist unerlässlich.

Fassen wir zusammen: Im Parlament dominiert die Immobilienlobby, der Bun­desrat kümmert sich nicht um die Mie­tenden und das Bundesgericht schlägt sich zunehmend auf die Seite des Kapitals. Welche Hoffnung gibt es für die Mietenden in unserem Land?

Wir können in den Kantonen die Regeln ändern, etwa über die Höhe der Mietzinse nach Renovationen oder Neu­ bauten, wie dies in Basel und Genf bereits geschehen ist. Dann können wir – auf kantonaler wie auf nationaler Ebene – Referenden ergreifen und damit der Im­ mobilienlobby zeigen, dass sie nicht ein­ fach durchmarschieren kann. Wir müssen das Narrativ der Immobilienkreise durch­brechen und der gesamten Bevölkerung klarmachen, dass die Bedürfnisse der Mieter*innen wichtiger sind als die Renditegier des Immobilienkapitals. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir sind fit to fight.

Interview: Andrea Bauer