«Schlichtungsbehörden stützten Strategie» 

Während Nicole Schweizer und ihr Team noch alle Hände mit der ersten Erhöhungsrunde zu tun haben, rollt schon die nächste an. Bild: Reto Schlatter

Die Anhebung des Referenzzinssatzes im Juni hat hohe Wellen geschlagen. Nicole Schweizer, Co-Leiterin der Rechtsberatung des MV Zürich, blickt auf ein turbulentes halbes Jahr zurück – und auf einen wichtigen Erfolg. 

Bereits wenige Tage nach der Referenzzinserhöhung liefen bei der Rechtsberatung des MV Zürich die Drähte heiss. In der zweiten Juniwoche gingen über tausend Anrufe ein, doppelt so viele wie sonst in einer Woche. Die Mailanfragen verdreifachten sich im Juni im Vergleich zu einem durchschnittlichen Monat. Insgesamt kamen von Juni bis September so viele Beratungsgespräche, Anrufe und Mailanfragen zusammen wie sonst in einem ganzen Jahr. Eine Herausforderung für Nicole Schweizer, Co-Leiterin der Rechtsberatung des MV Zürich, und ihr Team. 

Frau Schweizer, hatten Sie mit einem derartigen Ansturm auf die Rechtsberatung gerechnet? 

Ja, es war absehbar, dass wir bedeutend mehr Anfragen bekommen würden. In einer Zeit, in der alles teurer wird, ist eine Mietzinserhöhung umso belastender. Zudem hat der Mieterinnen- und Mieterverband bereits frühzeitig in den Medien auf das Thema aufmerksam gemacht und die Leute dazu ermutigt, eine Mietzinserhöhung genau anzuschauen und gegebenenfalls anzufechten. Wir bereiteten uns entsprechend vor. 

Wie sahen diese Vorbereitungen aus? 

Wir begannen bereits im Herbst 2022, als klar wurde, dass in den kommenden Monaten der Referenzzins steigen würde. Zunächst schauten wir uns alte Fälle von 2008 an – dem Zeitpunkt der letzten Erhöhung. Glücklicherweise haben wir Mitarbeiter*innen im Team, die damals bereits dabei waren und ihre Erfahrungen teilen konnten. Ausgehend davon spielten wir verschiedene Szenarien durch, entwickelten eine Beratungsstrategie und bereiteten Musterbriefe für die Mieter*innen vor. Ausserdem arbeiteten wir am Online-Mietzinsrechner mit. Per Juni stellten wir zusätzliche Mitarbeiter*innen an und richteten eine spezielle Telefonlinie für Fragen zum Referenzzinssatz ein. 

Welche Fragen kamen immer wieder in den Beratungsgesprächen? 

Die meistgestellte Frage war: Ist die Erhöhung gerechtfertigt? Gefolgt von: Was muss ich jetzt machen? Und: Wie stehen meine Erfolgschancen bei einer Anfechtung? 

Wie beantworteten Sie diese Fragen? 

Wenn der Referenzzinssatz steigt, haben Vermieter*innen grundsätzlich das Recht, die Miete in einem bestimmten Rahmen anzuheben. Die Antwort auf die erste Frage ist daher in den meisten Fällen erst einmal: Ja. Sofern kein Rechnungsfehler vorliegt und bei Vertragsschluss kein falscher Referenzzinssatz verwendet wurde, kann man da kaum etwas machen. Nebst dem höheren Referenzzins können die Vermieter*innen aber auch eine Kostensteigerungspauschale verrechnen – in diesem Punkt gibt es bei einer Anfechtung mehr Spielraum. Weil der Referenzzinssatz seit 2008 stetig gesunken ist, hat sich bisher kaum jemand für die Kostensteigerungspauschale interessiert. Mit der Erhöhung des Referenzzinssatzes im Juni fällt sie nun aber ins Gewicht. Deshalb haben wir das Thema zu einem Fokus unserer Kampagne gemacht. 

Welche Möglichkeiten gibt es denn punkto Kostensteigerungspauschale? 

Über die Kostensteigerungspauschale wälzen Vermieter*innen Betriebskosten auf die Mieter*innen ab, die sie nicht bereits als Nebenkosten verrechnen. Die Pauschale beträgt bis zu 1 Prozent des Nettomietzinses – pro Jahr seit der letzten Mietzinsänderung. Um zu beurteilen, ob die Höhe dieser Pauschale im Einzelfall gerechtfertigt ist, haben wir geschaut, wie viel Nebenkosten bezahlt werden und wofür. Wenn bereits drei oder mehr Positionen abgerechnet werden, ist es weder realistisch noch gerechtfertigt, eine Pauschale von 1 Prozent draufzuschlagen. In so einem Fall dürfte die Pauschale aus unserer Sicht maximal 0,25 Prozent betragen. Wenn die Nebenkosten hingegen nur Heizung und Warmwasser umfassen, halten wir 0,5 Prozent für vertretbar. Bei einem Neubau, bei dem keine Reparaturarbeiten zu erwarten sind, sollte die Kostensteigerung in den ersten fünf Jahren ganz entfallen. Entscheidend ist darüber hinaus, auf welcher Basis die Pauschale berechnet wird. Das ist leider eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. 

Können Sie es anhand eines Beispiels erklären? 

Nehmen wir an, Ihr Vermieter hat Ihnen vor drei Jahren die Miete wegen des Referenzzinssatzes gesenkt, Ihnen gleichzeitig aber 1 % Kostensteigerung pro Jahr seit der letzten Mietzinsänderung verrechnet. Der Nettomietzins, den sie seither zahlen, beinhaltet somit mehrere Jahre Kostensteigerung. Für die Mietzinserhöhung im Oktober wendet Ihr Vermieter nun diesen Nettomietzins an und berechnet darauf erneut eine Kostensteigerungspauschale – wiederum 1 % für jedes der drei Jahre seit der letzten Senkung, was dann also 3 % mehr Miete ausmacht. Jetzt wird es interessant – und noch komplizierter: Mietzinssenkungen sind in diesem Zusammenhang nicht verbindlich. Sie können darum als Mieter*in fordern, dass die Kostensteigerung basierend auf einem verbindlichen Nettomietzins berechnet wird – das ist entweder jener zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses, jener der letzten Mietzinserhöhung oder jener eines allfälligen abgeschlossenen Vergleichs. 

Die Kostensteigerungspauschalen, die mir mein Vermieter in der Vergangenheit bei Mietzinssenkungen aufgerechnet hat, würden dadurch entfallen? 

Genau. Bei der Beratung haben wir im Einzelfall jeweils ausgerechnet, ob es finanziell mehr Sinn macht, als Basis für die Pauschale den letzten verbindlichen Nettomietzins zu nehmen oder jenen nach der letzten Senkung. Was wichtig zu wissen ist: Wenn man eine Mietzinserhöhung akzeptiert, ist das in Zukunft der neue, verbindliche Nettomietzins – also auch die neue Basis für die Berechnung künftiger Kostensteigerungspauschalen. Wer die Mietzinserhöhung vom Juni akzeptiert hat, hat jetzt einen Nettomietzins, der sämtliche aufgerechneten Kostensteigerungen enthält – es gibt kein Zurück mehr. Deswegen haben wir den Mieter*innen zur Anfechtung geraten: Weil man dann eine Reduktion oder gar Streichung vergangener Kostensteigerungspauschalen fordern und so eine bessere Basis für künftige Mietzinsänderungen legen kann. 

Ist es überhaupt zulässig, die Kostensteigerung pauschal zu verrechnen? 

Nein, Pauschalen sind gemäss Bundesgericht nur in Ausnahmefällen zulässig. Eigentlich müssten die Vermieter*innen zuhanden der Mieter*innen die Kostensteigerung genau auflisten und aufschlüsseln. Die Behördenpraxis ist aber eine andere: In vielen Kantonen lassen die Schlichtungsbehörden der Einfachheit halber eine Pauschale zu. Im Kanton Zürich variiert diese von Bezirk zu Bezirk. Manche Schlichtungsbehörden rechnen mit 1 Prozent, andere nur mit 0,5. Wir vom MV Zürich kritisieren diese uneinheitliche Handhabung und halten 1 Prozent für klar zu hoch. Deshalb gingen wir im Juli aktiv auf alle Schlichtungsbehörden im Kanton zu. Wir informierten sie darüber, dass wir den Mieter*innen raten, die Mietzinserhöhung anzufechten und eine Anpassung der Kostensteigerungspauschale zu fordern – 0,5 Prozent bei geringen, 0,25 bei umfangreichen Nebenkosten und keinerlei Kostensteigerung bei Neubauten. 

Wie reagierten die Behörden darauf? 

Mehrheitlich bekamen wir ein gutes Feedback. Viele Schlichtungsbehörden teilten unsere Ansicht, dass nicht mit überrissenen Pauschalen gerechnet werden darf, und stützten unsere Strategie. Manche übernahmen die von uns vorgeschlagene Abstufung sogar. Einige stellten sich zunächst jedoch quer. 

Inwiefern? 

Sie schickten den Mieter*innen direkt nach Eingang der Anfechtung einen Brief mit einer Berechnung, die ungeachtet der vorgebrachten Argumente eine fixe Pauschale von 0,5 Prozent stützt. Sie positionierten sich damit klar aufseiten der Vermieterschaft. Das schreckte viele Mieter*innen ab und bewog sie dazu, ihre Anfechtung zurückzuziehen. Dass eine Behörde den Mieter*innen vor dem Verfahren mitteilt, sie interessiere sich, salopp gesagt, nicht für ihr Anliegen, ist inakzeptabel. Wir wehrten uns dagegen und kündigten an, betreffende Entscheide konsequent an die nächste Instanz weiterzuziehen. Seither hat sich einiges getan. Bei einem Treffen im Oktober einigten sich alle Schlichtungsbehörden darauf, dass Vermieter*innen die Kostensteigerung künftig nachweisen müssen und die Pauschalen vereinheitlicht werden – gemäss der von uns vorgeschlagenen Abstufung. Wir freuen uns über diesen kleinen Sieg. Er bestätigt unsere Strategie, die Kostensteigerungspauschale zu einem Schwerpunkt unserer Kampagne zu machen und diese langjährige Behördenpraxis anzugreifen. 

Angenommen, ich kann punkto Kostensteigerungspauschale nichts rausholen. Gibt es noch andere Möglichkeiten, die Mietzinserhöhung anzufechten? 

Die letzte Möglichkeit ist die sogenannte Renditeeinrede (mehr dazu lesen Sie unter «Nachgefragt»; Anmerkung der Redaktion). Für eine Renditeeinrede braucht es aus unserer Sicht eine anwaltliche Vertretung, weil das Thema rechtlich sehr komplex ist. Unser Motto in der Beratung ist jedoch Hilfe zur Selbsthilfe, deshalb war die Renditeeinrede bisher kein Fokus in unserer Beratungsstrategie – was sich je nach Entwicklung ändern kann. 

Sie sagten, viele Mieter*innen hätten sich nach den Erfolgschancen einer Anfechtung erkundigt. Weiss man schon, wie die Schlichtungsverfahren ausgegangen sind? 

In der Rechtsberatung hüten wir uns davor, Prognosen zu machen. Mit unserem Mietzinsrechner können wir den Mieter*innen lediglich eine Einschätzung geben, ob die Mietzinserhöhung überrissen scheint und wie viel bei einer erfolgreichen Anfechtung allenfalls rauszuholen wäre. Wenn die finanziellen Auswirkungen wesentlich sind, raten wir den Mieter*innen zu einer Anfechtung. Zusätzlich empfehlen wir ihnen, aktiv auf ihre Vermieterschaft zuzugehen. Das führte in einigen Fällen dazu, dass die Vermieterschaft den Mieter*innen mit einer tieferen Kostensteigerungspauschale entgegenkam, sodass die Schlichtungsverhandlung nicht mehr nötig war. Wie es bei den laufenden Verfahren aussieht, kann ich nicht sagen. Viele Mieter*innen haben noch nicht einmal einen Termin für die Schlichtungsverhandlung. Es gibt erhebliche Verzögerungen, weil die Behörden bedeutend mehr Anfechtungsgesuche bearbeiten müssen als üblich. 

Hat man bessere Erfolgschancen, wenn man sich mit anderen im Haus zusammentut? 

Grundsätzlich ist es immer hilfreich, wenn mehrere Mieter*innen die Mietzinserhöhung anfechten und mit einem gemeinsamen Vorschlag auf die Vermieterschaft zugehen – vorausgesetzt, die Ausgangslage ist vergleichbar. Man ist dann nicht alleine und alle stehen für das gleiche Anliegen ein. Das führt nicht selten dazu, dass die Vermieterschaft den Mieter*innen entgegenkommt, weil sie keine Lust auf eine Reihe von Schlichtungsverfahren hat. 

Rechnen Sie für die nun anrollende zweite Erhöhungsrunde mit einem ähnlichen Beratungsbedarf? 

Das ist im Moment schwierig abzuschätzen. Die zweite Erhöhungsrunde wird finanziell nicht ganz so stark ins Gewicht fallen wie die erste, weil seit der Erhöhung im Oktober nur drei Monate Kostensteigerung berechnet werden können. Es gibt aber Vermieter*innen, die die erste Erhöhungsrunde ausliessen und die zweite Runde abwarteten. Und es gibt Mieter*innen, die im Sommer keine Mietzinserhöhung erhielten, weil ihre Miete auf einem Referenzzins von 1,5 Prozent basierte. Wir rechnen vorsorglich mit einem ähnlich hohen Ansturm wie im Juni und planen unsere Ressourcen entsprechend ein. Auch deshalb, weil wir immer noch alle Hände voll zu tun haben mit den Fällen aus der ersten Erhöhungsrunde. In den vergangenen Wochen erhielten viele Mieter*innen relativ kurzfristig einen Vorladungstermin für die Schlichtungsverhandlung. Daher ist die Nachfrage nach den Coachings, die wir unseren Mitgliedern im Vorfeld der Schlichtungsverhandlung anbieten, momentan sehr gross. 

Gespräch: Isabel Plana