Endlich Zahlen zur Verdrängung

Werden Häuser abgerissen und neue gebaut, werden Menschen mit tiefen Einkommen durch besser Verdienende ersetzt, zeigt eine neue Studie. Das Ausmass habe ihn erschreckt, sagt David Kaufmann von der ETH.

David Kaufmann, Assistenzprofessor für Raumentwicklung und Stadtpolitik, ETH Zürich

M+W: David Kaufmann, Ihre Forschungs­gruppe belegt jetzt, was schon länger zu beobachten ist: Aufgrund von Neubauten und Renovationen werden besonders vulnerable Menschen verdrängt. Warum ist dem so?

David Kaufmann: Zum einen wohnen Menschen mit geringem Einkommen mehrheitlich in älteren Häusern, die jetzt vielfach abgerissen werden. Zum andern reissen private und institutionelle Akteure meist aus Profitüberlegungen Wohn­häuser ab, um sie durch neue zu ersetzen. Oder sie renovieren mit derselben Moti­vation. Das hat weit grössere nachteilige Effekte, als wir angenommen hatten.

Neben Menschen mit tiefen Einkommen verlieren überdurchschnittlich oft Alleinerziehende und von ausserhalb der EU Zugezogene ihre Wohnung. Gibt es auch beim Alter klare Unterschiede?

Erstaunlicherweise nicht. Die Verdrän­gungseffekte verlaufen entlang den Linien von wenig Einkommen, unsicherem Auf­enthaltsstatus und prekären Lebenssitua­tionen. Wir können keinen Effekt von Alter sehen. Es braucht dazu aber noch vertiefte Forschung.

Warum konnte man die direkte Verdrän­gung von vulnerablen Menschen durch Bautätigkeit nicht schon früher mit Zahlen belegen?

Das hat mit der Verfügbarkeit der Daten zu tun und damit, wie sie sich in Verbindung auswerten lassen. Bei dieser For­schung war für uns und andere For­schende lange nicht vorhersehbar, welche öffentlich zugänglichen Datensätze aussagekräftige Daten liefern und wie wir diese verknüpfen können.

Die Wohnungsnot erhielt jüngst plötzlich viel mediale Beachtung. Zu Wort kamen aber vor allem Banken, Immobilienvertreter und andere Wirtschaftsliberale. Deren Rezept gegen die Krise lautete immer gleich: Mehr bauen! Was sagen Ihre Zahlen dazu?

Bei dieser Argumentation bleiben die sozialen Konsequenzen von Verdich­tungsprozessen unbeachtet. Vor allem die Konsequenzen bei Ersatzneubauten und Renovationen – in diesen Häusern wohnten ja Menschen. Ich bin auch der Meinung, dass wir mehr Wohnungen und mehr Personen in dichteren Zentren brauchen. Aber diese Prozesse müssen sozial verträglich und demokratisch von­statten gehen. Es ist nicht nachhaltig, wegen der Wohnungsnot ausschliesslich profitorientierten Wohnungsbau zu forcieren.

Ihre Studie beinhaltet auch eine repräsen­tative Umfrage zur Akzeptanz von Verdichtung. Was ist der Bevölkerung dabei wichtig?

Ganz klar die ökologische und die soziale Verträglichkeit. Verdichtung ist besser akzeptiert, wenn es Massnahmen für den Klimaschutz und die Klimaanpassung gibt und wenn Grünflächen entstehen. Zudem sollte nicht Profit im Zentrum der Entwicklung stehen. Die Befragten wünschen sich eine Kosten­miete bei mindestens einem Drittel der neu entstehenden Wohnungen.

Welches sind für Sie persönlich die wich­tigsten Erkenntnisse aus der Studie?

Viele Menschen haben es schon lange geahnt, aber jetzt ist es mit repräsenta­tiven Zahlen belegt: Das Ausmass der Verdrängung ist enorm, insbesondere für vulnerable Personen. Die Innenentwick­lung respektive die Verdichtung sollte fortan mit flankierenden Massnahmen begleitet werden, um diese betroffenen Menschen besser abzusichern. Abrisse bestehender Wohnhäuser sollten besser geprüft und Renovationen etappiert werden. Ziel sollte grundsätzlich sein, dass die Bewohner*innen in ihre Woh­nungen zurückkehren können. Städte und Gemeinden sollten den bezahlbaren Wohnraum gerade an zentralen Lagen aktiver fördern, sei es durch den Erwerb von Boden oder indem sie gemeinnüt­zigen Wohnungsbau vermehrt unter­stützen. Es gibt viel zu tun, und es ist jetzt wichtig, dass Politik und Planung Strategien und Massnahmen entwickeln.

Zahlen zur Verdrängung durch Innenentwicklung im Kanton Zürich
• 12 998 Personen mit normalen Mietver­trägen wurden im Zeitraum 2014 bis 2019 wegen Abbruchs oder Renovation des Mehrfamilienhauses, in dem sie wohnten, verdrängt (nur 6,1 % der Bewohner*innen gehen nach einer Renovation zurück).
• Neue Wohnungen entstehen 6,5-mal häu­figer mittels Ersatzneubauten als durch Weiterbauen wie Anbau oder Aufsto­ckung, was ökologisch nachhaltiger wäre.
• Das monatliche Haushaltseinkommen von Verdrängten ist um 4800 CHF tiefer als das durchschnittliche im Kanton Zürich.
• Neue Mieter*innen verfügen über ein durchschnittlich um 3623 CHF höheres monatliches Haushaltseinkommen als die vorherigen Mieter*innen.
Zur Studie: https://spur.ethz.ch/de/research-overview/urban-policy-and-politics/ wohnungsnotstand.html

Interview: Esther Banz