Soziale Nachhaltigkeit bei Bauprojekten würde auch bedeuten, die Mietenden frühzeitig und offen zu informieren und sie einzubeziehen. Wie es tatsächlich läuft – drei Schauplätze.
Der Architekt Kai Vonburg* wohnt in einer Mietwohnung im Zürcher Kreis 6. Er staunt nicht schlecht, als er im Büro eines Kunden plötzlich erkennt, was da für Pläne an der Wand hängen. Sie sind Teil eines Studienauftrags und zeigen einen Neubau genau dort, wo er selber wohnt. Der Planungsprozess ist also schon fortgeschritten. Von offizieller Seite weiss der erstaunte Familienvater zu diesem Zeitpunkt aber noch nichts: Die Besitzerin – es ist die Pensionskasse des öffentlichen Personals des Kantons Zürich (BVK) – hat die Mieterinnen bis dahin nicht informiert.
BVK schweigt und macht Probebohrung
Inzwischen sind mehrere Monate vergangen – und Vonburgs wie auch alle andern im Haus wurden von offizieller Seite noch immer nicht über den geplanten Abriss ihres Hauses informiert. Zusammen mit dem Architekten verlieren voraussichtlich auch mehrere ältere bis sehr alte Menschen ihr Zuhause. Für sie wird es besonders schwierig werden, eine neue Wohnung zu finden. Und in Zürich auf die Schnelle eine Alterswohnung zu erhalten, ist ebenfalls illusorisch. Die BVK hätte die Mieter*innen schon längst über ihre Pläne informieren können, stattdessen schweigt sie und nimmt in Kauf, dass Gerüchte kursieren. Im Garten liess sie eine Probebohrung durchführen, frei werdende Wohnungen werden seit einer Weile nur noch befristet vermietet, auch wurde schon lange nicht mehr renoviert – all dies sind Anzeichen dafür, dass ein Haus umfassend saniert oder abgerissen wird. Nicht zu wissen, ob und wie lange man noch geduldet ist, kann enorm belastend sein, gerade für die älteren Menschen, das zeigen Studien. Die BVK kümmert das nicht.
Es ist offensichtlich, dass die grösste Pensionskasse im Land nicht daran interessiert ist, die bisherigen Mietenden an dieser Adresse zu behalten. Für Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich sind das Vorgehen und die ausbleibende Kommunikation unverständlich: «In Erneuerungsprozessen muss das oberste Ziel sein, dass die bestehenden Mietenden bleiben können – noch besser ist, wenn sie in die Planung einbezogen werden.» Und unabhängig davon, ob gekündigt werde oder nicht, «müssen die Mietenden von Anfang an umfassend informiert werden».
Die BVK bleibt aber maximal intransparent, auch M+W gegenüber. Der Kommunikationsverantwortliche Christian
Brütsch schreibt auf Anfrage, man werde, «sollte es zu Veränderungen kommen (…) in erster Linie direkt mit der Mieterschaft kommunizieren». Diese Aussage macht er mehrere Monate nachdem Kai Vonburg die Pläne für den Ersatzneubau bei seinem Kunden entdeckte.
Kein Einzelfall bei der BVK
Das ist kein BVK-Einzelfall, ganz in der Nähe gibt es ein weiteres aktuelles Beispiel: An der Huttenstrasse werden zwei Mehrfamilienhäuser aus dem BVK-Besitz saniert, die Bewohner*innen ausgewechselt. «Die BVK hat uns ihre Pläne nicht angekündigt», sagt Dan Gubler*, ein ehemaliger langjähriger Mieter, «und auch wenn wir anriefen, um uns zu erkundigen: null Information.» Als die Kündigung dann endlich eintraf, war der Schock gross: «Nur sechs Monate gaben sie uns Zeit, in Zürich eine bezahlbare Wohnung zu finden. Einer meiner Nachbarn war ein alter Mann, ein Urgestein im Haus.» Gubler fügt noch an: «Die Kündigung kam in der Pandemiezeit.» Zum Glück arbeite er bei der Stadt und nicht beim Kanton, «sonst wäre es meine eigene Pensionskasse gewesen, die mich rausgeworfen hätte.» Auch das gibt es immer öfter. Im zweiten Wohnhaus an der Huttenstrasse, das die BVK «entmietet» hat (so bezeichnet die Immobranche die Vertreibung ganzer Bewohner*innenschaften aus ihren Wohnungen und Siedlungen), bietet sie derzeit auf ihrer Webseite eine renovierte 5,5-Zimmer-Wohnung an: 5500 Franken will sie dafür monatlich.
Nichts Neues in Uster
Was oben beschrieben ist, wird mehr und mehr zur Realität in Zürich und anderen Gemeinden im Kanton, auch kleineren. In Uster ist eine ganze Siedlung betroffen, M+W berichtete (Ausgabe 3/21): Vier Mehrfamilienhäuser mit total 70 Wohnungen sollen abgerissen und ersetzt werden. Besitzerin ist die Immobiliengesellschaft Turintra AG, die zum UBS-Immobilienfonds SIMA gehört. Die Verwaltung ist an Livit ausgelagert. Den Mieter*innen gegenüber verschwieg man, was geplant ist. Erst im Kündigungsschreiben erfuhren sie vom bereits weit fortgeschrittenen Ersatzneubauprojekt. Es wurde ihnen eine «Mieterspezialbetreuung» angeboten und die Möglichkeit, in einem der Neubauten, die in zwei Etappen erstellt werden, eine neue Wohnung zu beziehen. Aber all ihre Fragen – zu Grundrissen, Mietzinsen oder Bezugsdatum – liefen ins Leere. Im Namen der Mieter*innen wandte sich die Ustermer Stadtpräsidentin persönlich an den Turintra-Verwaltungsratspräsidenten Daniel Brüllmann, der für die Leerkündigungen verantwortlich ist. Fünf Monate später: noch immer keine Reaktion. An einer Neubau-Wohnung interessierte Mieter*innen hätten in der Zwischenzeit von der Verwaltung ungefähre Angaben zu Preisen und Wohnungsgrössen erhalten, aber keine Angebote, sagt Mieter Michel Dennler: «Das einzige Schriftliche, was wir je erhielten, war die Kündigung.» Eine vorsorgliche, noch bevor das Baugesuch eingereicht war, und mit nicht mehr als einem Jahr Frist: Ein schlankes «Entmieten» sollte es werden.
Man erwarte die Baugenehmigung nun per Ende 2021, sagt ein UBS-Sprecher, erst nach anschliessenden Bereinigungen könne man die Mieter*innen informieren. Der Neubau erfolge in zwei Etappen, «aus ebendiesem Grund, dass der Mieterschaft ein Verbleib innerhalb der Überbauung ermöglicht werden kann», so der Sprecher. Einbezogen oder wenigstens transparent informiert werden die interessierten Mieter*innen aber nicht, und ihnen läuft die Zeit davon, gerade die älteren und Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter müssten schon längst vorwärts machen, planen können. Für die mangelnde Transparenz macht der Sprecher das Mietrecht verantwortlich. Ausgerechnet. Wer daran interessiert ist, dass gewachsene und für die Gesellschaft so wertvolle nachbarschaftliche Strukturen erhalten bleiben, dass die Menschen, die Teil davon sind, bleiben können, tut sein Bestes, um das zu ermöglichen. Das ist soziale Nachhaltigkeit.
«Turnaround für neue Zielgruppen»
Aber wer von «Entmieten» spricht, verrät selbst, dass es ihm nicht um Nachhaltigkeit geht. Sondern darum, das Verdrängungsprozedere möglichst reibungslos (ohne Widerstand der Mietenden und schlechte Presse) über die Bühne zu bringen. Kürzlich widmete sich die Immobilienbranche wieder einmal gemeinsam diesem Thema: Das Swiss Real Estate Institute lud Ende September zur Tagung «Vom Problem- zum Trendquartier». Hauptthema war die soziale Durchmischung in grösseren Stadtrand- Siedlungen. Nur diese (und nicht etwa die Villen-Monokulturen) sieht man als potenziell zu wenig durchmischt und problematisch an. Wegen der «Konzentration bestimmter Kulturen» und überhaupt wegen eines hohen Ausländeranteils (das halte Schweizer*innen davon ab, sich für eine Wohnung zu bewerben). Ein Programmpunkt lautete entsprechend: «Wie gelingt der Turnaround für neue Zielgruppen?» Als Hypothek werden in der Turnaround-Logik nebst Nicht- Schweizer*innen explizit auch ältere Menschen gesehen, weil sie sich «wegen Kinderlärm gegen Familien als Neumieter wehren».
Hier kommt Joëlle Zimmerli ins Spiel. Die Soziologin, die mit der Immobilienwirtschaft verbunden ist, erzählt den Teilnehmenden, wie ein Erneuerungsprozess sozialverträglich vonstatten gehen soll – dabei geht es auch stark um Kommunikation, den Zeitpunkt, wann Kündigungen ausgesprochen werden. Zimmerli wies in der Tagung auf die Bedeutung einer frühen Kommunikation hin, unterstützt von einer Vertreterin von Pro Senectute. Die Soziologin habe Möglichkeiten aufgezeigt, sich aber nicht positioniert, sagt Eveline Kunz, die in Winterthur die MV-Geschäftsstelle leitet. Überhaupt, dieser «Turnaround für neue Zielgruppen», diese Verdrängung, die viele Betroffene als gewaltvoll und entwürdigend erleben: Sie sei von niemandem hinterfragt, sondern als normale Notwendigkeit und Entwicklung vorausgesetzt worden, als göttliche Ordnung sozusagen. «Es fehlt an der Idee und Vorstellung, dass man zum Schutz besonders vulnerabler Betroffener auch Forderungen stellen kann», sagt Eveline Kunz. Forderungen nach Wohnsicherheit im Alter etwa oder wenigstens nach frühzeitiger Information.
Gegen die eigenen Versicherten
Forderungen, denen erst recht eine BVK mit ihrem zur Hälfte aus Arbeitnehmenden-Vertreter*innen zusammengesetzten Stiftungsrat von sich aus nachkommen müsste. Tatsächlich hat sie sich «Zehn Grundsätze für verantwortungsbewusste Anlagen» gegeben. Mit dem neunten Grundsatz will sie sich hinsichtlich Anlagen und Kommunikation von Massnahmen «schweizweit als Referenzkasse» positionieren. Fragt man aber nach ihren definierten Nachhaltigkeitszielen und dem Raster, «an dem sich die soziale Nachhaltigkeit orientiert», kommt von den Kommunikationsverantwortlichen auch bei mehrmaligem Nachhaken nur Ausweichendes: Man sei gerade daran, die Webseite neu zu gestalten. Das ist eine dürftige Performance für ein Unternehmen, das mit Mieter*innen grosse Rendite erzielt.
Die BVK befolgt nach eigenen Angaben die UNO-Prinzipien für verantwortungsbewusstes Investieren. Nicht bekannt ist ihr, dass die Schweiz 1992 das UNO-Abkommen über das «Recht auf angemessenes Wohnen» unterzeichnet hat. Es soll Menschen vor Vertreibung schützen – in Diktaturen, in Ländern mit Krieg und solchen ohne funktionierenden Rechtsstaat. Aber zunehmend ist das auch in Ländern wie der Schweiz nötig, wo riesige Kapitalvermögen für immer mehr Ungleichheit und Ungerechtigkeit sorgen. Davon betroffen sind auch die Versicherten der BVK: Lehrpersonen, Pflegepersonal, Sozialarbeitende und viele weitere, die im öffentlichen Dienst arbeiten – denn als Mieter*innen sind sie auf bezahlbare Wohnungen in der Stadt und im Kanton angewiesen.
* Namen geändert. Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.
Text: Esther Banz