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Im Paradies regt sich Widerstand

Sils Maria im Engadin. Foto: Keystone/Michelangelo Oprandi

Leerstehende Feriendomizile zuhauf, aber die arbeitende Bevölkerung findet keine bezahlbaren Wohnungen: Im Engadin und anderswo spitzt sich die Lage zu. Einzelne Gemeinden halten dagegen, mit einigem Erfolg.

Ankommen im Oberengadin. Nach knapp zwei Stunden fährt der Zug der Rhätischen Bahn, der auf der Albula­strecke soeben rund tausend Höhen­meter überwunden hat, im Bahnhof Samedan ein. Der blaue Himmel, die nahen Bergflanken und die winterlichen Temperaturen versprechen frische, gesunde Luft. Stattdessen empfängt starker Kerosingeruch die Ankom­menden. Es wird wohl gerade ein Pri­vatjet gelandet oder gestartet sein auf dem nahen Flugplatz. Samedan liegt unweit von St. Moritz. Weitere beliebte Ferienorte wie Pontresina und Sils Maria befinden sich in nächster Nähe. Das Bündner Hochtal kennt man auf der ganzen Welt. Oder besser: Kennen die Reichen dieser Welt. Und nicht wenige von ihnen freuen sich über ein paar Tage Ferien im Jahr in dieser fantastischen Bergwelt – manche im Hotel, andere im eigenen Haus oder der privaten Ferien­wohnung, ihrem Zweit- oder Drittzuhause. Es kommt also nicht von unge­fähr, dass der bekannte Umweltschützer Franz Weber im Engadin in den 1960er-Jahren seinen ersten grossen Kampf führte. Mit Erfolg: Die Seenebene und Ufer sind geschützt und dürfen nicht verbaut werden.

Die Tricks in Bundesbern

Mehr als 40 Jahre später war Franz Weber wieder erfolgreich: Die Schweizer Stimmbevölkerung nahm 2012 die Zweit­wohnungsinitiative an. Sie wollte den Anteil von Zweitwohnungen pro Ge­meinde auf 20 Prozent begrenzen (wo diese nicht ohnehin schon überschritten sind). Aber in Bundesbern ist eine Mehrheit der Parlamentarier*innen mit der Bau-und Immobilienwirtschaft verban­delt. Das Gesetz zur Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative sollte die Land­schaft vor Verbauung und die Menschen vor Verdrängung schützen – Ersteres funktioniert nur beschränkt und Letz­teres gar nicht. Denn das Parlament be­schloss, die sogenannt altrechtlichen Wohnungen und Häuser – jene, die vor 2012 schon standen – nicht vor der Um­wandlung von Erst- in Zweitwohnungen zu schützen.

Um den bestmöglichen Preis geht es bei Immobilienverkäufen fast immer. Vielen Mieter*innen bleibt dann nur die Wahl zwischen Wegzug und überrissenen Mieten.

Das heisst, es können allmählich alle einstigen Erstwohnungen zu Zweitwoh­nungen werden. Verkäufe und Kündi­gungen sind schon jetzt die Folge davon, Mieter*innen werden aus ihren Häusern verdrängt. Und auf der grünen Wiese, am Rande der Dörfer, entstehen doch weiter neue Häuser – weil Einheimische nur noch dort wohnen können. Die prob­lematische Entwicklung beschleunigt ausgerechnet ein Bündner: In Bundes­bern erwirkte der Mitte-Politiker Martin Candinas eine weitere Lockerung des Zweitwohnungsgesetzes – jetzt ist es noch attraktiver, Häuser abzureissen und an ihrer Stelle Zweitwohnungen zu er­stellen. Wegen dieser «Lex Candinas» wird sich die Lage für die Mieter*innen im Engadin und anderswo in touristi­schen Berggemeinden noch mehr zu­spitzen, denn Zweitwohnsitze lassen sich sehr viel teurer verkaufen und vermieten als Erstwohnungen. Erstwohnungen werden von Menschen gesucht, die dort, wo sie leben, arbeiten – und die von ihrer Arbeit leben. In den touristischen Alpen­regionen sind dies mehrheitlich Personen in Berufen mit niedrigen Löhnen: Gast­gewerbe, Hotellerie und überhaupt Tou­rismus, Verkauf, Bau, auch Pflege. Wer sich hingegen an solchen Orten eine Zweit-Immobilie leisten kann, gehört zu den weit überdurchschnittlich Verdie­nenden, zu den Vermögenden.

Um den bestmöglichen Preis geht es bei Immobilienverkäufen fast immer. Vielen Mieter*innen bleibt dann nur die Wahl zwischen Wegzug und überrissenen Mieten. Das wirkt sich auch auf die Be­völkerungsstruktur in den Gemeinden aus: Wer arbeitet noch im Spital? Und wer sitzt am Schalter der Bergbahn und an der Kasse im Lebensmittelgeschäft?

Ausgehebelte Gemeindegesetze

In Sils hat die Schulleiterin an der Ge­meindeversammlung darauf hingewiesen, dass die Zukunft der Schule ungewiss sei, weil die Kinder fehlen. Familien haben kaum noch eine Chance, eine bezahlbare Wohnung zu finden.

Dabei ist Sils eigentlich ein Vorzei­geort nicht nur wegen seiner Schönheit. Im Engadin war es eines der ersten Dörfer, die mit einem kommunalen Ge­setz Erstwohnungen zu schützen ver­suchten, andere Gemeinden folgten dem Vorbild. Doch dann kam das in Bern gestaltete immobilienfreundliche Zweit­wohnungsgesetz. Es hebelte die vorherigen, den Zweitwohnungsbau regulie­renden Gemeindegesetze weitgehend aus. Man dachte, das nationale Gesetz und die daraus abgeleiteten neuen kom­munalen Zweitwohnungsgesetze würden die alten Regeln ersetzen. Ein Irrtum mit weitreichenden Folgen, erst recht seit die Immobilienlobby auch die «Lex Candinas» durchgewunken hat, sogar gegen die eindringliche Empfehlung eines besorgten Bundesrats.

In Pontresina versuchte man es mit einer Spezialsteuer für «Zweitheimische» – mit den Einnahmen wollte man bezahl­baren neuen Wohnraum für Einheimische schaffen, für ein lebendiges Dorf auch in Zukunft. Aber der Widerstand war zu gross, die Vermögenden zu mächtig. Das Projekt scheiterte – wie zuvor ein ver­gleichbares in der Gemeinde Silvaplana.

In Sils brachte der Gemeinderat letztes Jahr mehrere Vorschläge zur Ab­stimmung. Der grösste Hebel wäre ge­wesen, altrechtliche Wohnungen nach Abriss und Neubau oder Totalsanierung mindestens zur Hälfte als Erstwohnungen zu erhalten – es hätten also nicht einfach ebenfalls lauter Zweitwohnungen daraus werden dürfen. Aber die Vorlage hatte keine Chance. Seither sei das Dorf ge­spalten, sagt Urs Kienberger, der viele Jahre das berühmte Hotel Waldhaus ge­führt hat. Dabei sei fast allen klar, dass gehandelt werden müsse. Aber die Situa­tion sei vertrackt. «Die Menschen hier sind stolz darauf, dass Sils noch immer ein so schöner Ort ist. Sie möchten, dass das Dorf attraktiv bleibt, deshalb gibt es einen starken Konsens für Zurückhaltung beim Bauen. Aber das erhöht den Druck auf die altrechtlichen Wohnungen. Die müssten besser geschützt werden. Das Dorf soll ja weiterhin auch von Familien bewohnt bleiben.»

«Die Menschen hier sind stolz darauf, dass Sils ein so schöner Ort ist.»

Der Druck steigt und steigt

Zu den frühen regulierenden Mass­nahmen von Sils gehörte ein obligatori­scher Erstwohnungsanteil bei Neubau­projekten, den erhöhte man 2010 sogar auf 50 Prozent. So konnten über hundert neue Wohnungen für die ansässige Bevölkerung geschaffen werden. Das Zweit­wohnungsgesetz brachte aber auch das Silser Modell durcheinander, «und vor allem setzten sie in Bern die Initiative sehr fragwürdig in ein Gesetz um. Da hatten die Initiativgegner viel mehr die Federführung als die Befürworter», sagt Urs Kienberger. Jetzt müssen die Ge­meinden strengere Gesetze erlassen, um ihre bestehenden Erstwohnungen zu schützen, aber, sagt der pensionierte Ho­telier: «Verbote sind auf kommunaler Ebene viel schwieriger einzuführen und einzuhalten als auf nationaler.»

2018 – also noch vor Corona – dachte man in Sils noch, man könne das Gesetz sogar ein wenig zusätzlich lockern: Die bis dahin kommunal geschützten Erst­wohnungen sollten nach 20 Jahren durch Bezahlen einer Ablösesumme in eine Zweitwohnung umgewandelt werden können. Doch dann verstärkte die Pan­demie den Druck auf den Wohnraum in den schönen und gut erschlossenen Alpen zusätzlich. Der Gemeindevorstand schlug nun vor, die Lockerung wieder rückgängig zu machen. Aber dieser Vor­schlag hatte im Juni 2024 an der Gemein­deversammlung keine Chance. Erst jetzt gelang es in einem zweiten Anlauf, den Schutz wieder einzuführen. Eine Einheimische hatte die Initiative ergriffen, Urs Kienberger und ein ehemaliger Gemeindepräsident zogen mit und gemeinsam erreichten sie eine Mehrheit. Es sei ein kleiner Schritt, sagt die Gemeindepräsidentin, Barbara Aeschbacher, zum Erfolg, aber immerhin: «Es ist gelungen, die neu geschaffenen Erstwohnungen wieder zu schützen. Der Druck ist gross, das rechtfertigt die Rückkehr zum bewährten Hebel.»

Pioniergemeinde Flims

Über den Silser Erfolg freut sich auch die Bündner Grossrätin Franziska Preisig (siehe Interview). Die Juristin lebt mit ihrer Familie in der Oberengadiner Ge­meinde Samedan in einer Mietwohnung und weiss nie, wie lange noch. Sie enga­giert sich auch im Mieterinnen-und Mie­terverband Graubünden und kennt die Ausgangslage im Engadin bestens: Sie er­zählt: «Flims hat den viel grösseren Coup gelandet.» Das bei Wintertourist*innen beliebte Flims liegt in der Surselva (dem Tal, aus dem auch der Mitte-Politiker Candinas stammt). Auch hier habe die Nachfrage nach Wohnraum in den ver­gangenen Jahren stark zugenommen, mit stark steigenden Immobilienpreisen als Konsequenz, wie die Gemeinde schreibt: «Dies erhöht den Druck auf die altrechtlichen Wohnungen stark, sodass diese vermehrt auf dem Zweitwohnungsmarkt gehandelt werden.» Und das wiederum führe zu unerwünschten Auswirkungen: Verdrängung der einheimischen Bevölkerung, fehlende Erstwohnungen für Neuzuzüger*innen, Entleerung des Dorfzentrums, Abwanderung. Und auch in Flims hätten Betriebe zunehmend Mühe, Personal zu finden, nicht zuletzt «auf­grund von fehlendem Wohnraum». Mindestens hundert Erstwohnungen wurden innerhalb von nur fünf Jahren in Zweitwohnungen umgewandelt, rechnete eine Studie der Fachhochschule Grau­bünden vor.

«Der Wohnraum ist falsch genutzt»

Im Engadin ist es kaum noch möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Warum und mit welchen Folgen, erklärt die dort lebende Grossrätin Franziska Preisig. –> Zum Interview

Die Flimser Bevölkerung beschloss im 2023, mit einem obligatorischen Erstwohnungsanteil bei baulichen Massnahmen Gegensteuer zu geben.

Die Flimser Bevölkerung beschloss im November 2023 mit grosser Mehrheit, mit einem obligatorischen Erstwoh­nungsanteil bei baulichen Massnahmen Gegensteuer zu geben. So gilt jetzt das, was die Gemeindeversammlung in Sils ablehnte: eine Erstwohnungsverpflich­tung von 50 Prozent bei Abbruch und Neubau und bei einem wesentlichen Umbau, der die Raumaufteilung verän­dert und weitere Wohnungen schafft. Alternativ muss eine Abgeltung entrichtet werden, wobei die Gemeinde mit diesen Beträgen einen Fonds zum Erstellen von Erstwohnungen äufnet.

Mit der Zweitwohnungsinitiative wollte man einst die Natur und die Dörfer vor allzu vielen kalten Betten schützen. Jetzt muss man sogar die warmen Betten schützen. Aber in den Gemeinden er­kennt man zunehmend, wie problema­tisch die Bundespolitik für ihre Entwick­lung ist. Und sie handeln.

«Der Wohnraum ist falsch genutzt»

Franziska Preisig

Im Engadin ist es kaum noch möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Warum und mit welchen Folgen, erklärt die dort lebende Grossrätin Franziska Preisig.

Franziska Preisig, ist die Zweitwohnungs­initiative von Franz Weber, die 2012 knapp angenommen wurde, schuld an der heutigen Wohnkrise in den touristischen Bergregionen?
Nein. Das Problem liegt in ihrer mise­rablen Umsetzung, dem Zweitwohnungs­gesetz. Ich würde sogar sagen, es sei ver­fassungswidrig. Denn gemäss Initiativtext müsste der Anteil Zweitwohnungen ja auf 20 Prozent beschränkt werden. Es dürften also keine neuen Zweitwoh­nungen entstehen, wo diese Hürde bereits überschritten ist.

Der Neubau von Zweitwohnungen und so auch die Zersiedlung konnten gestoppt werden, sagt der Bund. Warum entstehen trotzdem neue Zweitwohnungen?
Weil die bürgerlichen Politikerinnen und Politiker in Bern ganz viele Löcher ins Gesetz gebohrt haben. Eines der gra­vierendsten: Sogenannt «altrechtliche» Wohnungen – also jene, die es vor An­nahme der Initiative im März 2012 schon gab oder für die die Baubewilligung vorlag – sind nicht geschützt und ihre Besitzer in der Art und Weise der Nut­zung frei. Ältere Wohnungen können also in Erstwohnungen umgewandelt werden. Es gibt zwar im Gesetz auch einen Schutz vor Missbrauch und unerwünschten Ent­wicklungen aufgrund dieser Befreiung des altrechtlichen Bestandes …

Aber?
Das Bundesparlament hat die Verant­wortung einfach an die Kantone und Gemeinden delegiert. Quasi: Macht ihr doch! Die Kantone wollen nicht, also muss jede Gemeinde sich selber etwas einfallen lassen. Mit dem Effekt auch, dass sich Probleme in Nachbargemeinden verlagern.

Im Kanton Graubünden gehen Flims, Sils, Pontresina und einige weitere Gemeinden die Probleme aktiv an. Aber was ist mit den vielen weiteren von der Verdrängung be­troffenen, warum bewegen sie sich nicht?
Viele Gemeindevorstehende waren noch nie Mietende und finden deshalb vielleicht keinen Zugang zu den damit verbundenen Problemen, da sie nie selber betroffen waren. Andere, die sich küm­mern – oft aus dem Unterland Zugezogene –, kriegen eins aufs Dach, wie Barbara Aeschbacher in Sils.

Kümmert es die Einheimischen denn gar nicht, wenn allmählich das Personal in Spitälern, Alterszentren, Läden, Restaurants und bei Bahnen fehlt, weil sie alle keine Wohnung finden?
Doch. Denn tatsächlich spüren jetzt langsam auch diejenigen die Konse­quenzen, die sich gegen ein stärkeres Zweitwohnungsgesetz und also gegen besseren Schutz gewehrt haben. Hotels bauen wieder mehr Personalhäuser. Aber sie bauen Studios – das bringt uns zurück in die Zeiten mit dem Saisonnierstatut, als Arbeitende geholt wurden, aber ohne Familie. Unter den heutigen Bedingun­gen ist es immer schwieriger, als Ange­stellte, die zur Miete wohnen, noch eine Familie zu gründen.

Während mit den Ferienwohnungen gleichzeitig so viel Wohnraum die meiste Zeit leer steht.
Korrekt. Es gibt genug Wohnraum, aber er ist falsch genutzt. Bis zu 50 Wo­chen im Jahr kalte Betten, während gleichzeitig immer mehr Arbeitneh­mende im ÖV, in Bussen oder Autos über die Pässe zupendeln muss, es in den einst lebendigen Dörfern «tötelet» und die Schulen schliessen müssen.

Mit dem Vorstoss von Nationalrat Martin Candinas können altrechtliche Häuser von Einheimischen, wenn sie ausgekernt oder abgerissen und neu gebaut werden, als Zweitwohnungs-Immobilien auf den Markt kommen. Es gibt nicht einmal eine Verpflichtung zu teilweisen Erstwoh­nungen. Was bedeutet das?
Die weitere Lockerung des Zweitwohnungsgesetzes ist verheerend. Denn jetzt ist es noch attraktiver, altrechtliche Wohnungen in Zweitwohnungen umzu­nutzen. Als SP hätten wir einer Flexibilisierung zustimmen können, wenn gleichzeitig ein Erstwohnungsanteil von 50 Prozent im Zweitwohnungsgesetz ver­ankert worden wäre. Denn eine Flexibilisierung bei der Raumeinteilung älterer Häuser macht oftmals durchaus Sinn und kommt verschiedenen Bedürfnissen entgegen.

Wo sehen Sie den grössten Hebel für eine bessere Entwicklung?
Im Moment in einem Erstwohnungs­anteil um die 50 Prozent. Aber es braucht mehr. Die Gemeinden müssen dringendst eine aktive Wohnraumpolitik machen, Wohnraumstrategien entwickeln zu­gunsten ihrer Bevölkerung und des lokalen Gewerbes. Sonst gehen die Ver­drängung und das Aussterben der Dörfer weiter.

Interview: Esther Banz

Sozialverträgliche Neubauten sind möglich

Der Neubau an der Stelle der Siedlung Frohburg in der Stadt Zürich in einer Visualisierung.

Die Helvetia-Versicherung wird die Siedlung Frohburg im Norden der Stadt Zürich durch einen Neubau ersetzen. Im Umgang mit den Bewohner*innen geht die Eigentümerin einen ungewöhnlichen Weg.

Nur ein paar Schritte von der Station «Tierspital» und der Winterthurerstrasse entfernt findet man sich an einem ganz eigenen Ort wieder. Zwischen den beige-braunen 1950er-Jahre-Bauten, die hier stehen, gibt es viel Grün, jede Menge par­kierter Velos und zahlreiche Katzen, die über die Wiese huschen oder selbst­bewusst mitten auf dem Gehweg liegen. Alles wirkt friedlich.

So ruhig wird es in der Siedlung Froh­burg nicht bleiben. Veränderung naht. Davon zeugen die Bauprofile, die zwi­schen den Gebäuden in die Höhe ragen. «Am Anfang wirkten sie fast bedrohlich. Inzwischen haben wir uns daran ge­wöhnt», sagt Tina Janczer. «Sie stehen ja auch schon lange», ergänzt Bernadette Erismann. Die beiden Frauen wohnen in der Gartenstadtsiedlung im Norden der Stadt Zürich zwischen Winterthurer­strasse und Frohburgstrasse. Tina Janczer verbrachte hier mehr oder weniger ihr ganzes Leben, Bernadette Erismann ihr halbes. Als die Helvetia-Versicherung, die Eigentümerin, 2018 bekannt gab, dass sie die Siedlung abreissen und durch Neu­bauten ersetzen will, war das ein Schock.

Die Siedlung ist ein Pfeiler im Leben

Tina Janczer ist in der Frohburg aufgewachsen. In ihren Zwanzigern ging sie auf Reisen und kehrte danach in ihr Zuhause zurück. «Mein damaliger Partner und ich wollten nur übergangsweise hier wohnen.» Aber Tina Janczer blieb. Heute lebt die 46-Jährige mit ihrer 15-jährigen Tochter und ihrem 13-jährigen Sohn in der Frohburg – eingebettet in ein tra­gendes Familienkonstrukt. Ihre Eltern, ihre Schwester und ihr Ex-Mann – der Vater der Kinder – wohnen nur ein paar Häuser weiter. Ihr Bruder ein Stockwerk unter ihr. Janczer: «Die Kinder konnten dank dieser Nähe seit der Trennung ein­fach zwischen uns Eltern pendeln. Ich kann mich um meine Eltern kümmern und mit meinen Geschwistern eine enge Beziehung pflegen.»

Bernadette Erismann lebt seit 45 Jahren in der Siedlung. Ihr Sohn ist längst ausgezogen, ihr Mann seit fünf Jahren in einem Pflegeheim. Die 91-Jäh­rige wohnt allein und kommt bestens zurecht. Waschen in der geteilten Wasch­küche, einkaufen und Besuche bei ihrem Mann in Wollishofen, das alles schafft sie selbstständig. «Die Lage ist ideal. Das Tram ist nahe und fährt direkt nach Wollishofen. Es gibt Einkaufsmöglich­keiten und ich kenne einige Bewoh­ner*innen. Es ist schön hier», sagt sie. Dem schliesst sich Sarah Hubmann an. Die 45-Jährige zog 2003 als Studentin hierher. Sie kann sich keinen besseren Ort vorstellen. «Ich schätze die Nähe zum Wald und die Ruhe. Man ist etwas abseits vom Trubel und doch schnell mitten in der Stadt.» Für alle drei ist klar: Sie wollen hier noch lange bleiben.

Helvetia handelt «positiv pionierhaft»

Mit der Ankündigung der Helvetia-Versicherung schien dieser Wunsch für einen Moment zu einer Unmöglichkeit zu verkommen. Denn das Neubauprojekt erinnert auf den ersten Blick an Verdich­tungsgeschichten, wie man sie aus Zürich nur zu gut kennt: In die Jahre gekom­mene Siedlungen müssen Neubauten weichen. Mehr Wohnungen, höhere Mieten, mehr Rendite lautet das Motto. Die bisherigen Bewohner*innen werden verdrängt.

Auch in der Frohburg wird verdichtet: Wo heute 303 Wohnungen stehen, soll es in einigen Jahren mehr als doppelt so viele geben. 657 plant die Helvetia-Versicherung. Dazu einen Kindergarten mit Hort, einen Laden und ein Café. In einem Punkt geht die Helvetia aber einen anderen Weg – einen «positiv pionierhaften», findet Walter Angst, Co-Geschäftsleiter des Mieterinnen-und Mieterverbands Zürich. Die Eigentümerin will dafür sorgen, dass langjäh­rige Mieter*innen in der Siedlung bleiben können. Dazu bietet sie ihnen preisgüns­tige Wohnungen im Neubau. «Für unsere Altmietenden möchten wir ein Vorzugs­recht für neue Wohnungen in einem sehr tieferen Preissegment gewähren», erklärt Rebecca Blum, Mediensprecherin bei Helvetia. Das Recht gilt für rund 90 Miet­parteien, die vor dem Jahr 2017 einge­zogen sind.

Freiwilliges Engagement

Dieses Vorgehen freut Walter Angst. Denn: Die Eigentümerin hat sich frei­willig dazu entschieden. «Es gibt keine Verpflichtung, dass die Helvetia einen Anteil preisgünstiger Wohnungen bereit­stellen muss», so Angst. Für institutio­nelle, renditeorientierte Bauherrschaften ist das ungewöhnlich. «Für die meisten institutionellen Eigentümer*innen ist die Rendite das höchste Ziel», sagt auch Sabeth Tödtli, die das Projekt mit ihrem Verein Urban Equipe begleitet.

Auch die Etappierung des Bauvorhabens ist laut Angst durchdacht. Die Umsetzung erfolgt in zwei Teilen. In einem ersten Schritt reisst die Helvetia rund 100 Wohnungen ab, in einem zweiten die restlichen 200. Langjährige Bewohner*innen, die in den Neubau ziehen möchten und aktuell in einer Wohnung leben, die in der ersten Etappe abgerissen wird, können innerhalb der Siedlung umziehen. Die vergünstigten Wohnungen entstehen zuerst. Neben Miete und Planung wird die Zusammen­arbeit mit dem Mieterverband geschätzt – von den Bewohner*innen und der Eigentümerin. Der Verband habe in der Kommunikation mit den Mieter*innen wertvolle Hinweise geliefert, sagt Re­becca Blum. Und Tina Janczer betont: «Dass wir den Mieterverband an unserer Seite haben, ist beruhigend.»

Mietpreise sind noch unklar

Aber es gibt auch offene Fragen. Die drängendste betrifft die künftigen Miet­preise. «Das Wichtigste für eine sozialverträgliche Transformation sind bezahl­bare Mieten und eine rechtzeitige und verbindliche Kommunikation dieser Mietzinse», sagt Sabeth Tödtli. Die Hel­vetia-Versicherung hat die Preise noch nicht kommuniziert. «Aktuell können wir aufgrund noch ausstehender Formali­täten sowie des noch unklaren Zeitpunkts für die Realisierung die Mietpreise noch nicht kommunizieren», begründet Rebecca Blum. Die regulären Mieten sollen sich im ortsüblichen Rahmen bewegen. In einer Sitzung des Stadtzürcher Parlaments, in der das Bauprojekt behandelt wurde, nannte ein Vertreter der Alternativen Liste (AL) preisgünstige Mieten von 1250 Franken für eine 2,5-Zimmer-Wohnung und 2100 Franken für eine 4,5-Zimmer-Wohnung. Die Helvetia hat sich dazu nicht gäussert.

Die Bewohner*innen hoffen auf baldige Klärung. «Wir wären froh, wir wüssten, wie viel die neuen Wohnungen kosten. Wir müssen wissen, ob wir uns das leisten können», sagt Tina Janczer. Auch Sarah Hubmann betont: «Wir haben zwar dieses Versprechen der Helvetia. Es wäre aber beruhigend, die Mieten schwarz auf weiss zu haben.» Für Berna­dette Erismann ist das Timing das grösste Fragezeichen. «In meinem Alter würde ich schon gerne wissen, wie lange es noch dauert. Je nach Zeitfenster wird für mich auch eine Alterswohnung zum Thema.»

Der Mieterinnen-und Mieterverband Zürich bleibt zuversichtlich: «Langjährige Mieter*innen werden in eine mit ihrem Budget bezahlbare Neubauwohnung um­ziehen können», sagt Walter Angst. Die grosse Frage, die bleibt: Wird Helvetia das Frohburg-Modell überall umsetzen? Die Zukunft wird’s zeigen.

Text: Samantha Taylor

Gute Nachrichten für Mieterinnen und Mieter!

Mit der Senkung des Referenzzinssatzes per 3. März 2025 steht vielen Mieter*innen eine Mietreduktion zu. Das System hat aber seine Tücken: Teuerung und Kostensteigerung können gegengerechnet werden. Mit Hilfe des Mieterinnen-und Mieterverbandes überprüfen Sie ihren Anspruch ganz leicht und verlässlich.

Mieter*innen haben in diesen Zeiten nicht viel zu lachen. Die Mieten sind seit 2006 um fast 25 Prozent gestiegen. Insgesamt wurden gemäss Studien zwischen 2006 und 2023 100 Milliarden Franken zu viel Miete bezahlt. Die an sich klaren gesetzli­chen Vorgaben werden nicht umgesetzt, überrissene Mietzinse sind in der Schweiz ein reales und einschneidendes Problem. Zudem wurde 2023 der Referenzzinssatz gleich zwei Mal angehoben, was zu einer weiteren Verschärfung der Situation geführt hat.

Am vergangenen 3. März gab es für einmal Grund zur Freude. Der Referenz­zinssatz ist von 1,75% wieder auf 1,5% gesunken – damit sollten grundsätzlich die Mieten auch reduziert werden. Die Vermieterschaft gibt die Senkung jedoch selten von sich aus weiter: Mieter*innen müssen selbst aktiv werden.

Wie hängen Referenzzins und Mietzins zusammen?

Der Referenzzinssatz ist der durch­schnittliche Zinssatz aller inländischen Hypothekarforderungen der Banken in der Schweiz. Er wird vierteljährlich er­hoben, in Viertelprozent festgesetzt und vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) publiziert. Er wurde im Septem­ber 2008 eingeführt und betrug damals 3,5%. Anschliessend sank er bis 2023 kontinuierlich. Jede Senkung um 0,25% sollte theoretisch zu einem Rückgang der Mieten um 2,91% führen. Die Mietzins­senkungen aufgrund des Referenzzinses hätten insgesamt über 20% be­tragen sollen. Das ist nicht eingetroffen, weil die Senkung nicht systematisch weitergegeben wird.

Achtung: Teuerung!

Eine Mietreduktion zu beantragen ist sehr empfehlenswert. Aber Achtung: Das System hat so seine Tücken. Die Vermie­terschaft darf dem an sich berechtigten Anspruch auf eine Senkung die Teuerung und Kostensteigerung gegenüberstellen. Diese waren in den letzten Jahren spür­bar. Die Lebenshaltungskosten sind ange­stiegen und die Vermieterschaft darf einen Teuerungsausgleich von 40% vor­nehmen und Pauschalen für die Kosten­steigerung einsetzen. Fällt der errechnete Betrag höher aus als der Senkungsanspruch der Mieter*innen, könnte bei einem Antrag keine Mietzinsreduktion, sondern eine Mietzinserhöhung resultieren.

Nicht verzagen – den Mieterinnen-und Mieterverband fragen

Dieses Risiko besteht. Die Chance auf eine Mietreduktion aber auch. Um herauszufinden, ob man eine zugute hat, lohnt es sich also unbedingt, nachzurechnen. Mit dem Mietzinsrechner des Mieterinnen-und Mieterverbandes wissen Mieter*innen innerhalb von 5 Minuten verlässlich, ob sie Anspruch auf eine Mietzinssenkung haben (mieterverband.ch/senkung). Der Rechner be­rücksichtigt alle regionalen Besonder­heiten. Die paritätisch (mit Vertretungen der Vermieterschaft und der Mieter*in­nen) zusammengesetzten Schlichtungs­behörden rechnen nämlich nicht alle mit den gleichen Pauschalen. Der Wohnort sowie der aktuelle Mietzins sind massgebend.

Mit wenigen Klicks kann man so also den eigenen Anspruch auf Senkung über­prüfen. Der Mietzinsrechner berücksichtigt Teuerung, Kostensteigerung etc. und bietet den Nutzer*innen eine Über­sicht in Tabellenform sowie einen Mus­terbrief für die Anfechtung.

Die Mieter*innen müssen den Antrag, ein sogenanntes Herabsetzungsbegehren, schriftlich auf den nächstmöglichen Kündigungstermin unter Einhaltung der Kündigungsfrist stellen. Die Vermie­terschaft muss dann innert 30 Tagen Stellung nehmen. Antwortet die Vermie­terschaft nicht beziehungsweise nicht fristgemäss oder lehnt sie das Herabsetzungsbegehren ab, können die Mie­ter*innen innert weiteren 30 Tagen an die Schlichtungsbehörde gelangen.

Mieter*innen, die Fragen haben oder Unsicherheiten verspüren und ihren Anspruch nochmals vertieft überprüfen lassen wollen, können sich beim Miete­rinnen-und Mieterverband beraten lassen. Mitglieder können dies bei ihrer Sektion kostenlos machen.

Innerhalb der ersten Wochen nach der Referenzzinssatzsenkung wurden rund 40’000 Anfragen im Mietzinsrechner be­arbeitet und Senkungen im Wert von total 1,4 Millionen Franken berechnet. Das ergibt im Schnitt eine Mietreduktion von 60 Franken – eine kleine aber doch spür­bare Entlastung des Haushaltsbudgets und somit eine gute Nachricht. Die Miet­krise in der Schweiz lässt sich damit je­doch nicht lösen. Dafür braucht es politi­sche Massnahmen.

Text: Romina Loliva

Update (April 2025): Mittlerweile wurden bereits knapp 60’000 Mietzinsen überprüft, wobei bei knapp 70 Prozent davon ein Senkungsanspruch festgestellt werden konnte. Die durchschnittliche Mietreduktion beträgt weiterhin knapp 60 Franken pro Monat – insgesamt wären das Senkungen im Wert von total 2,3 Millionen Franken.

Wer hat Anspruch auf eine Mietreduktion?
Der Anspruch auf eine Mietzinssenkung wird aufgrund der letzten sogenannten Mietzinsfestsetzung berechnet. Basis ist also das Niveau:
• beim Abschluss des Mietvertrags, wenn seither keine Anpassung erfolgte;
• oder dasjenige nach der letzten Mietzinserhöhung;
• oder aber was von der Schlichtungs­behörde oder einem Gericht im Rahmen einer Mietzinsfestsetzung verfügt wurde.

Konkret haben Mieter*innen Anspruch, wenn:
• ihre Miete auf einem Referenzzins­satz von 1,75% oder höher beruht;
• ihre Miete aufgrund der Erhöhung des Referenzzinssatzes im Dezember 2023 auf 1,75% erhöht wurde;
• sie seit Dezember 2023 einen Mietvertrag abgeschlossen haben;
• sie langjährige Mieter*innen sind, die nie eine Senkung bekommen haben, und die Miete immer noch auf einem Referenzzins von über 1,75% beruht.

Man kann ja nicht nicht wohnen

Foto: Keystone/Manuel Geisser

Kaum jemand hält sich noch an das geltende Mietrecht. Deshalb steigen die Mieten kontinuierlich. Die Bevölkerung muss dies korrigieren und das Abzocken von Mietenden stoppen. Der Mieterinnen- und Mieterverband lanciert eine Volksinitiative.

Sie fragen sich, warum die Mieten steigen und steigen?

Eigentlich haben wir ein kluges Mietrecht. Mieten müssen sich nämlich an den realen Kosten der Vermietenden orientieren, abseits des Prinzips von «Angebot und Nachfrage». Zusätzlich darf nur eine beschränkte Rendite gemacht werden. Diese weise Regelung hat die Gesetzgeberin sehenden Auges gemacht. Würde man nämlich die Mietpreisbildung dem sogenannten Markt überlassen, könnte die Vermieterseite den Preis bestimmen. Die Konsequenzen für die Mietenden wären fatal: Man muss ja wohnen, man kann ja nicht nicht wohnen. Es herrscht also ökonomisch ausgedrückt Konsumzwang. Dort, wo die Arbeitsplätze sind, gibt es immer eine das Angebot übersteigende Nachfrage nach Wohnraum. Wenn nämlich mehr gebaut wird, kommen mehr Leute. Diese gehen ins Restaurant, zum Coiffeur, haben Kinder, die zur Schule gehen, und so weiter. Das schafft mehr Arbeitsplätze, was wiederum mehr Nachfrage nach Wohnraum nach sich zieht. Das Angebot hinkt also immer hinterher, egal, wie viel man baut. In der Ökonomie nennt man genau das einen «Anbietermarkt». Die Vermietenden können also den Preis festlegen und so die maximale Zahlungsfähigkeit der Mietenden abschöpfen, also eine maximale Rendite erzielen. Unser System sagt deshalb «Nein»! Nein, liebe Vermietende, ihr dürft keine beliebige Rendite machen, und die Mieten müssen sich nach den Kosten richten.

Sie fragen sich nun erst recht, warum dann die Mieten trotzdem so krass gestiegen sind in den letzten 20 Jahren?

Die Kosten für die Vermietenden sind wegen der historischen Tiefzinsphase massiv gesunken. Also hätten die Mieten im Gegenteil sinken müssen, weil sie sich ja an den realen Kosten zu orientieren haben. Dass dies nicht geschah, liegt daran, dass sich kaum mehr jemand an das geltende Mietrecht hält. Zinssenkungen werden zum Teil nicht weitergegeben. Der grösste Mietpreistreiber aber ist, dass bei Wohnungswechseln die Mieten einfach erhöht werden, obwohl das missbräuchlich und damit rechtswidrig ist. Einfach mal ein paar hundert Franken aufschlagen ohne den geringsten Mehrwert, ohne Leistung.

Sie fragen sich, wie das möglich ist?

Warum müssen sich Vermietende nicht ans geltende Mietrecht – also die Kostenmiete mit dem Renditedeckel – halten? Das ist so, weil sie es einfach können; denn die sogenannten Anfangsmieten müssen von den Mietenden vor einer Schlichtungsstelle angefochten werden. Und zwar im ersten Monat. Das machen circa 0,2% der Mietenden.

Sie fragen sich, warum so wenige Leute sich wehren?

Ganz einfach: Zuerst müsste man wissen, dass man das kann; viele haben aber von ihren Rechten keine Ahnung. Dann sollte man sich auch getrauen. Viele haben Angst – jetzt, da sie endlich eine neue Wohnung gefunden haben –, dass ihnen wieder gekündigt wird, wenn sie die Vermieterschaft vor Gericht ziehen. Und schliesslich hat man doch gerade in Treu und Glauben einen Mietvertrag unterschrieben. Juristenzeug schreckt viele ab. Dazu muss man auch noch Zeit haben, mitten im Umzugsstress die Miete anzufechten. Dass die einzelnen Mieterinnen und Mieter selbst für die Durchsetzung des Mietrechts sorgen müssen, ist deshalb ganz offensichtlich eine Zumutung.

Und so kommt es, dass die Mieten Jahr für Jahr steigen. Mietende zahlen über 10 Milliarden oder 360 Franken pro Monat zu viel gemessen an den gesetzlichen Vorgaben. Die Vermieterlobby hat also schleichend eine Marktmiete eingeführt, ohne je einen Buchstaben des Gesetzes zu ändern. Ohne dass die Bevölkerung je mit einer Abstimmung etwas dazu zu sagen gehabt hätte.

Sie fragen sich, wie lange wir dem noch zuschauen wollen?

Keinen Moment länger, denn dieses volkswirtschaftliche Debakel, diese gesetzeswidrige Ungerechtigkeit müssen wir stoppen. Die Bevölkerung muss korrigieren können. Der Mieterinnen- und Mieterverband lanciert eine Volks­initiative: Erstens müssen die Kostenmiete und die beschränkte Rendite endlich konkret in die Verfassung geschrieben werden. Und zweitens braucht es eine periodische automatische Überprüfung der Mietpreise. Denn schliesslich geht es hier nicht um irgendwelche Regeln zu Turnschuhen, sondern um die Durchsetzung eines Rechts rund um das Zuhause der Menschen und um den grössten Posten im Haushaltsbudget.

Text: Jacqueline Badran

Jacqueline Badran, SP-Nationalrätin und Vorstandsmitglied des
Mieterinnen- und Mieterverbands Schweiz

Neue Küche, neues Bad – aber ohne uns?

Sanierungen bringen oft viel Unruhe mit sich, und nicht selten erhalten alle Mieter*innen eine Kündigung. Doch Widerstand kann sich lohnen – diese Tipps zeigen, wie vorzugehen ist.

Als Brigitte und Rolf Hugentobler eines Tages einen Brief von ihrer Hausverwal­tung erhalten, staunen sie nicht schlecht: Ein Termin zur Begutachtung ihrer Wohnung wird angekündigt. Vor wenigen Tagen war bereits ein Handwerker dort, um die Leitungen zu inspizieren. «Will die Vermieterin sanieren? Bedeutet das eine baldige Kündigung?» fragen sie sich besorgt.

Ihre Befürchtung kommt nicht von ungefähr. Massenkündigungen wie die bei den «Sugus-Häusern» im Zürcher Kreis 5 verunsichern viele Mieter*innen. Ihr Wohnhaus wurde in den 80er-Jahren gebaut und seither nicht modernisiert. Zwar wirkt die Einrichtung mit ihren braunen Küchenfronten und den bunten Badezimmerfliesen altmodisch, doch für die Hugentoblers ist ihr Zuhause perfekt. Seit Jahrzehnten nennen sie diese Woh­nung ihr Zuhause, haben hier ihre Kinder grossgezogen, Nachbarschaft gelebt und Wurzeln geschlagen. Eine Kündigung würde nicht nur den Verlust der Woh­nung bedeuten, sondern auch den Ab­schied von der vertrauten Gemeinschaft. Zudem ist die Miete im Vergleich zu den allgemein gestiegenen Wohnkosten mo­derat – ein wesentlicher Faktor für viele Bewohner*innen der Liegenschaft.

Manche Renovationen sind möglich, ohne dass Mieter*innen ausziehen müssen. Doch oft wird behauptet, eine Sa­nierung mache den Verbleib unmöglich – sei es aus praktischen Gründen oder mit dem Hintergedanken, danach höhere Mieten verlangen zu können. Ob es wirk­lich so ist, sollte genau geprüft werden.

Vorübergehender Auszug als Lösung

Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine Kündigung aufgrund einer Sanierung missbräuchlich sein kann, wenn Mieter*innen einen temporären Auszug anbieten. In diesem Fall stellt die Anwesenheit der Mieter*innen kein Hindernis für die Bauarbeiten dar, sodass ein schutzwürdiges Kündigungs­interesse fehlt. Die Hugentoblers sollten also noch vor einer allfälligen Kündigung schriftlich erklären, dass sie bereit wären, während der Sanierung vorübergehend auszuziehen – die sogenannte Auszugs­garantie –, um danach in ihre renovierte Wohnung zurückzukehren. Dieses für Mieter*innen wichtige Inst­rument wurde nun vom Obergericht des Kantons geschwächt. Das Mietgericht Zürich hatte sich kürzlich mit der Frage zu beschäftigen, wie es mit der Miss­bräuchlichkeit aussieht, wenn die Mieter­schaft erst nach Erhalt der Kündigung eine Auszugsgarantie abgibt, und gab dem betroffenen Mieter recht. Die Gegenseite zog das Urteil weiter und errang ihrerseits einen Sieg vor dem Zürcher Obergericht. Dieses war der Meinung: Eine einmal gültig ausgesprochene Kündigung bleibt bestehen, selbst wenn die Mieterschaft später eine Auszugsgarantie gibt.

Fragwürdiges Urteil

Das Urteil des Obergerichts ignoriert den eigentlichen Zweck der Kündigung und ist deshalb fragwürdig. Wenn Mie­ter*innen garantieren, für die Sanierung auszuziehen, ist eine Kündigung über­flüssig. Dennoch hielt das Gericht an der Gültigkeit der Kündigung fest – obwohl sie keinen praktischen Nutzen mehr hat.

Das benachteiligt kooperative Mie­ter*innen und verschafft Vermieter*in­nen mehr Spielraum, Kündigungen auch ohne echten Bedarf durchzusetzen. So können Mieter*innen ihre Wohnung verlieren, obwohl sie der Vermieterschaft gar nicht im Weg stehen. Was können Mieter*innen dennoch tun?

Gemeinsam auftreten

Mieter*innen haben bessere Chancen, wenn sie sich zusammenschliessen und gemeinsam Forderungen stellen. Dabei sollten ihre Anliegen strukturiert und geordnet werden. Die Hugentoblers könnten in ihrer Hausgemeinschaft eine Sprecherrolle übernehmen und die Ge­spräche mit der Vermieterin führen. Eine faire Vermieterin sollte in einem solchen Fall versuchen, die Sanierung sozialver­träglich zu gestalten.

Öffentlichkeit als Hebel

Für Herrn und Frau Hugentobler kommt es anders: Als sie das Gespräch mit der Vermieterin suchen, blockt sie ab – von Entgegenkommen keine Spur. Nun könnten die Hugentoblers mediale Aufmerksamkeit suchen. Öffentlicher Druck könnte die Vermieterin zu Kom­promissen bewegen. Auch die Unterstüt­zung durch politische Entscheidungsträ­ger*innen oder den Mieterinnen-und Mieterverbands kann hilfreich sein, ins­besondere bei grossen Bauprojekten. 17

Kündigung: Form ist Pflicht

Da die Vermieterin die Wohnungen ohne Bewohner*innen sanieren will, kün­digt sie allen Mietparteien, auch den Hugentoblers. Doch gesetzlich muss eine Kündigung bestimmten Formalitäten ent­sprechen: Sie muss auf einem amtlich ge­nehmigten Formular erfolgen, sonst ist sie nichtig. Da die Hugentoblers verheiratet sind, muss die Vermieterin jedem Ehe­partner ein separates Kündigungsformular zusenden, selbst wenn nur eine Person den Mietvertrag unterschrieben hat.

Timing zählt

Die Vermieterin muss sich an die ver­traglichen Kündigungsfristen und -ter­mine halten. Die Frist beginnt an dem Tag zu laufen, an dem die Hugentoblers das Einschreiben entgegennehmen oder es erstmals hätten bei der Post abholen können. Ab diesem Zeitpunkt beginnt auch die Rechtsmittelfrist für eine Kündi­gungsanfechtung und/oder ein Erstre­ckungsbegehren zu laufen. Der Folgetag ist Tag eins der 30-tägigen Anfechtungs­frist. Das gilt unabhängig davon, ob die Hugentoblers die Sendung abholen oder nicht. Ein Ignorieren eingeschriebener Post ist deshalb keine gute Idee – die Frist bleibt die gleiche.

Kündigungen anfechten

Den Hugentoblers bleibt nur noch eine Option: die Kündigung innerhalb von 30 Tagen bei der Schlichtungsbe­hörde anfechten. Verpassen sie diese Frist, gilt die Kündigung als akzeptiert – selbst wenn sich die Sanierung später als «faule Ausrede» entpuppt. Laut Bundes­gericht sind die Chancen einer Anfech­tung gut, wenn die Sanierung auch im bewohnten Zustand ohne grössere Verzö­gerung oder Komplikationen machbar wäre. Dazu zählen beispielsweise Maler­arbeiten, Balkonanbauten oder Fassaden­renovationen. Dann fehlt ein schutzwür­diger Kündigungsgrund. Eine Kündigung «auf Vorrat» ist ebenfalls missbräuchlich, etwa wenn noch kein Baugesuch einge­reicht, nur ein Investitionsplan vorliegt oder die Finanzierung nicht gesichert ist. Eine Kündigung gilt auch dann als miss­bräuchlich, wenn die geplante Sanierung unrealistisch oder gar unmöglich er­scheint – insbesondere wenn weder der Umfang der Arbeiten noch die Notwendigkeit des Auszugs der Mietenden klar beurteilt werden können.

Wird eine Kündigung als missbräuch­lich eingestuft, wird sie aufgehoben und die Mieter*innen kommen zusätzlich in den Genuss einer Kündigungssperrfrist. Diese schützt Mieter*innen vor Kündi­gungen aus Vergeltung, etwa nach einer erfolgreichen Kündigungsanfechtung. Die Vermieterschaft darf dann für drei Jahre nicht kündigen, es sei denn, es liegt ein gesetzlich anerkannter Grund vor.

Erstreckung des Mietverhältnisses

Eine Kündigung bedeutet nicht auto­matisch, dass die Hugentoblers sofort ihre sieben Sachen packen und ausziehen müssen – selbst dann nicht, wenn die Schlichtungsbehörde oder das Gericht die Kündigung als rechtmässig einstuft. In vielen Fällen haben Mieter*innen die Möglichkeit, eine Mieterstreckung zu be­antragen. Dann wird genau geprüft: Wie hart trifft sie der Verlust ihrer Wohnung? Und wie dringend ist das Sanierungspro­jekt der Vermieterschaft tatsächlich?

Die Entscheidung über eine Erstre­ckung ist eine Ermessensfrage. Das heisst, es gibt keine festen Regeln, aber be­stimmte Faktoren spielen eine Rolle. Wer finanziell nicht auf Rosen gebettet ist oder Kinder hat, kann oft mit einer längeren Erstreckung rechnen. Auch die Wohnungssituation am Markt ist entscheidend: Je schwieriger es ist, eine Ersatzwohnung zu finden, desto eher wird eine Erstreckung gewährt. Es lohnt sich, aktiv nach einer neuen Bleibe zu suchen und die Bemü­hungen mit Bewerbungsschreiben oder Internetanfragen zu dokumentieren.

Üblicherweise dürfen Mieter*innen noch einige Monate bleiben, in manchen Fällen sogar länger als ein Jahr. Die ge­setzliche Höchstdauer für eine Erstre­ckung beträgt vier Jahre. Ein so langer Aufschub ist aber in der Praxis eher die Ausnahme – leider.

Fazit: Sanierung heisst nicht automa­tisch Vertreibung. Wer sich organisiert, seine Rechte kennt und aktiv handelt, kann eine Kündigung anfechten, eine Er­streckung erwirken oder durch öffentli­chen Druck faire Lösungen erzwingen. Mieter*innen sind nicht machtlos – wer sich wehrt, kann gewinnen.

Text: Fabian Gloor

Das Bundesgericht hebelt den Mietschutz aus

Dass die Mieten laufend erhöht werden, hat verschiedene Gründe. Neben dem Machtgefälle zwischen Vermieterschaft und Mieterschaft und dem fehlenden Angebot führt die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu mehr Renditemöglichkeiten.

Die Mieten werden laufend erhöht, obwohl die Kosten für die Vermieter*in­nen seit Jahren sinken. Gemäss Studie sind es inzwischen über 10 Milliarden Franken Miete, die pro Jahr ungerechtfertigt von Mietenden an die Vermieter­schaft fliessen. Ungerechtfertigt des­wegen, weil das Mietrecht auf der Kostenmiete basiert; tiefere Kosten müssten tiefere Mieten nach sich ziehen.

Die meisten Erhöhungen finden beim Wechsel der Mieterschaft statt. Und dabei geht es mehr um das Auspressen einer Zitrone – wobei die auszupressende Zitrone wir Mieter*innen sind – als um exakte Berechnungen nach Referenzzins­satz und Co. In unserer Luzerner Kam­pagne für mehr Transparenz und Anfech­tungen beim Anfangsmietzins haben wir daher seit 2021 versucht, gegen solche ungerechtfertigten Erhöhungen vorzugehen. Trotz Erfolgen müssen wir fest­stellen, dass sich in dieser Zeit der Rahmen, was überhaupt erlaubt ist, zu­gunsten der Vermieterschaft verschoben hat. Verantwortlich dafür sind die Urteile des Bundesgerichts, das die Renditemöglichkeiten für Vermieter*innen massiv ausgebaut hat.

Basierend auf dem Prinzip der im Gesetz verankerten Kostenmiete erach­tete das Bundesgericht lange Zeit einen Zuschlag von 0,5% zum Referenzzinssatz als zulässigen Wert. 2020 änderte das Bundesgericht diese Praxis. Nun darf der Nettoertrag oder die Nettorendite statt 0,5% neu 2% über dem Referenzzinssatz liegen, solange dieser nicht höher als 2% ist. Beim damaligen Referenzzinssatz von 1,75% war nun statt einer Rendite von 2,25% neu eine solche von 3,75% erlaubt. Diese sogenannte Nettorenditeberechnung gilt allerdings nur bei Bauten, die älter als 10 Jahre sind und nicht länger als 30 Jahre bei derselben Eigentümerschaft liegen.

Skandalöser Entscheid

Bei Altbauten – also Gebäuden, die länger als 30 Jahre im selben Besitz sind–gilt nicht die Kostenmiete, sondern eine Marktmiete; die Mieten müssen dem orts-und quartierüblichen Niveau ent­sprechen. Stieg der Anfangsmietzins ge­genüber der Vormiete um mehr als 10%, galt jedoch die Vermutung, dass diese Erhöhung missbräuchlich sei. Diese Ver­mutung musste durch die Vermieter­schaft eindeutig widerlegt werden: Min­destens fünf Objekte im gleichen Ort oder Stadtquartier, die nach Lage, Grösse, Zustand, Ausstattung und Bauperiode mit dem Mietobjekt vergleichbar sind, musste sie dazu vorbringen.

Auch hier griff das Bundesgericht ein. Neu reichen Indizien wie Statistiken oder ein langes Vormietverhältnis, um die Missbrauchsvermutung umzustossen, und die Beweislast mit den fünf Objekten liegt dann bei den Mieter*innen. Den Mietzins bei einem Wechsel der Mieter­schaft zu erhöhen, wird so erleichtert.

Und was gilt bei Neubauten – also Gebäuden, die vor maximal 10 Jahren ge­baut wurden? Auch hier ist eine Rendite erlaubt, die 2% über dem Referenzzins­satz liegt. Die Renditeberechnung beruht bei Neubauten aber auf dem gesamten investierten Kapital, nicht nur dem Eigenkapital.

Der neuste Entscheid des Bundesgerichts – und das ist skandalös – erhöht den Renditesatz sogar auf 3,5% über dem Referenzzinssatz. Das macht beim aktu­ellen Referenzzinssatz eine Rendite von 5% – und zwar auf das gesamte inves­tierte Kapital, inklusive Fremdkapital.

Höhere Renditen allenthalben und erschwerte Mietzinsanfechtungen: Das Bundesgericht macht mit diesen Urteilen Mietpolitik – auf eine solch mietfeind­liche Weise, wie es dem Parlament dank der Referendumsfähigkeit des Miete­rinnen-und Mieterverbands nie gelingen würde. Politisch bedeutet dies für uns, eigene Ideen anzustossen. Wir müssen die Kostenmiete stärken und mehr Kontrollmöglichkeiten bei den Renditen schaffen.

Text: Nadja Burri und Daniel Gähwiler, MV Luzern, NW, OW, UR

News

Bundesgericht lässt Mieter*innen im Regen stehen

Das Bundesgericht hat in einem Leiturteil die Rechtsprechung zur Berechnung der zulässigen Mietzinserhöhung nach einer Wohnungssanierung neu beurteilt. Damit werden die Mietzinse nach Sanierungen noch höher – obwohl schon heute viel zu hohe Mietzinserhöhungen verrechnet werden. Mit diesem Urteil begünstigt das Bundesgericht einmal mehr die Vermieterseite und ihre Immobilienrenditen statt der Kaufkraft der Mieter*innen.

Achtung, Leitzins ≠ Referenzzins!

Im September 2024 hat die Schweizerische Nationalbank SNB den Leitzins bereits zum dritten Mal in Folge gesenkt. Dieser liegt nun bei 1 Prozent. Aber: Das bedeutet (noch) nicht, dass Mietende eine Mietzinssenkung verlangen können. Die Mietzinse orientieren sich am Referenzzinssatz, der vierteljährlich durch das Bundesamt für Wohnungswesen BWO publiziert wird. Dieser liegt aktuell bei 1,75 Prozent und kann frühestens im Dezember 2024 sinken. Eine Senkung des Mietzinses aufgrund des Referenzzinssatzes können Mietende erst dann einfordern – und auch dann nur, wenn sie zuletzt eine Erhöhung aufgrund des steigenden Referenzzinses erhalten haben oder der Vertrag auf einem Referenzzins von 1,75 Prozent oder höher basiert.

Ihre Fragen, unsere Antworten

Die Rechtsberater*innen des Mieterinnen- und Mieterverbands beantworten jährlich Zehntausende von Fragen rund ums Mieten und das Mietrecht – darunter viele, die sich um Mietzinse und Kündigungen drehen. Nur Mieter*innen, die ihre Rechte kennen, können sich auch wehren.

Wie kann ich überprüfen, ob meine Mietzinserhöhung korrekt ist?

Ob eine Mietzinserhöhung aufgrund des Referenzzinssatzes, der Teuerung oder allgemeinen Kostensteigerung betragsmässig gerechtfertigt ist, können Sie mit dem Mietzinsrechner auf www.mieterverband.ch/mietzinsrechner ermitteln. Als Mitglied beim Mieterinnen- und Mieterverband helfen Ihnen unsere Berater*innen. Wenn Sie mit der Mietzinserhöhung nicht einverstanden sind, müssen Sie sie innert 30 Tagen bei der zuständigen Schlichtungsbehörde anfechten.

Nadja Burri, Mieterinnen- und Mieterverband Luzern

Unsere Vermieterschaft hat lediglich drei von zwölf Mietparteien eine Mietzinserhöhung zugestellt. Wir vermuten, nur denjenigen, welche die letztjährigen Mietzinssenkungen jeweils einverlangt haben. Darf die Vermieterschaft die Mietenden in ein und derselben Liegenschaft derart ungleich behandeln?

Ja. Die Vermieterschaft kann frei entscheiden, ob sie mögliche Mietzinsveränderungen auf die Mieter*innen überwälzt oder nicht. Da Mietverhältnisse in Mehrfamilienhäusern in der Regel zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingegangen werden, basiert die Berechnung des jeweiligen Mietzinses auf unterschiedlichen Grundlagen wie z. B. unterschiedlichen Referenzzinssätzen und Konsumentenpreisen (Teuerung).

Gaby Millasson, Mieterinnen- und Mieterverband Aargau

Wie finde ich heraus, welche Nebenkosten die Vermieterschaft abrechnen kann?

Prüfen Sie Ihren Mietvertrag, denn Nebenkosten sind nur dann geschuldet, wenn diese besonders vereinbart wurden. Was im Mietvertrag nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist im Nettomietzins inbegriffen. Der Mietvertrag muss zudem die zu Ihren Lasten gehenden Nebenkostenpositionen genau umschreiben, damit beim Vertragsabschluss klar verständlich ist, welche Kosten zusätzlich zu übernehmen sind. Generelle Formulierungen wie «sämtliche Nebenkosten zulasten der Mieterschaft» oder ein reiner Verweis auf allgemeine Vertragsbestimmungen reichen nicht aus. Auch Sammelbegriffe, wie z. B. «Service-Abo», die nicht nachvollziehen lassen, für welche konkreten Leistungen Zusatzkosten entstehen, genügen den Voraussetzungen der Klarheit und Eindeutigkeit nicht. Diese Kosten dürfen Ihnen nicht in Rechnung gestellt werden.

Stefanie Zillig, Mieterinnen- und Mieterverband Bern

Wie kann ich mich gegen eine ungerechtfertigte Mietzinserhöhung wehren?

Wenn Sie mit einer Erhöhung nicht einverstanden sind, müssen Sie diese innert 30 Tagen ab Erhalt bei der Schlichtungsbehörde Ihres Wohnbezirks anfechten. Den Brief müssen alle Personen unterzeichnen, die im Mietvertrag aufgeführt sind. Bei Familienwohnungen müssen beide Ehepartner*innen unterschreiben. Legen Sie dem Brief Kopien des ursprünglichen Mietvertrages und der vergangenen Mietzinsänderungen inkl. der letzten Erhöhung bei. Senden Sie den Brief unbedingt per Einschreiben ab.

Nicole Schweizer, Mieterinnen- und Mieterverband Zürich

Meine Vermieterin hat mich auf dem Kieker, weil ich Einsicht in die Belege für die Nebenkosten verlangt habe. Neulich im Treppenhaus schreit sie: «Pack deine sieben Sachen und verschwinde!». Gilt das als Kündigung?

Eine mündliche Kündigung ist unwirksam, also so, als hätte sie die Vermieterin gar nie ausgesprochen. Die Vermieterin hätte schriftlich und mit einem vom Kanton genehmigten Formular kündigen müssen. Gegen eine mündliche Kündigung müssen Sie nichts unternehmen.

Fabian Gloor, Hotline für Mietrecht

Mein Vermieter hat mir gekündigt, eingeschrieben und unter Verwendung des amtlichen Formulars. Allerdings enthält die Kündigung keine Begründung.

Eine Kündigung ist auch ohne Begründung gültig. Denn laut Gesetz muss der Vermieter die Kündigung nur begründen, wenn Sie dies verlangen. Sie müssen diese Kündigung, wenn Sie nicht damit einverstanden sind, deshalb auch anfechten, wenn sie nicht begründet ist oder wenn der Vermieter eine Begründung verweigert. Liefert der Vermieter keine Begründung, kann das Ihre Erfolgsaussichten bei der Anfechtung der Kündigung erhöhen. Das Gleiche gilt, wenn sich die angegebene Begründung als falsch oder vorgeschoben erweist. Dann ist die Kündigung nämlich missbräuchlich.

Domenica Imperiali, Mieterinnen- und Mieterverband Solothurn

Mein Vermieter hat mir mit einer dreimonatigen Frist auf den 30. September gekündigt. Im Mietvertrag sind nur der 31. März und der 30. November als Kündigungstermine vermerkt.

Ihr Mietvertrag sieht nur zwei Kündigungstermine im Jahr vor. Diese gelten nicht nur für Sie, sondern sind auch für Ihren Vermieter verbindlich. Er kann Ihnen deshalb nicht auf den 30. September kündigen. Eine verfrühte Kündigung ist aber nicht nichtig, sondern wird einfach auf den nächstmöglichen Kündigungstermin wirksam – in Ihrem Fall automatisch auf den 30. November. Dies allerdings nur, wenn Sie die Kündigung nicht anfechten und keine Erstreckung verlangen. Das müssten Sie innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der Kündigung tun.

Rahel Gsponer, Mieterinnen- und Mieterverband Ostschweiz

Antworten auf noch viel mehr Fragen aus dem Mietrecht, Fallbeispiele aus der Praxis und Dokumente zum Herunterladen finden Sie auf mieterverband.ch/mietrecht

Das Parlament besteht aus Volksvertreter*innen. Doch die meisten sind es nicht.

Ueli Schmezer ist Journalist, Jurist, Musiker, Dozent und Auftrittscoach. Und erster Ersatzmann der SP-Männer in Bern für den Nationalrat. Unter anderem war er 25 Jahre beim Kassensturz. Foto: Goran Basic

Vom Volk gewählt, das schon – und das betonen die Gewählten auch gerne. Aber wenn’s um das Betätigen des Ja- oder Nein-Knopfes im Ratssaal geht, sind sie plötzlich sehr weit weg vom Alltag dieses Volkes.

Dass echte Volksvertreter*innen so dünn gesät sind, ist eine eklatante Schwäche unseres Parlaments und letztlich undemokratisch. Die Angriffe auf das Mietrecht zeigen das exemplarisch: 60 Prozent der Menschen im Lande sind Mietende, also müsste sich das Parlament, wäre es tatsächlich eine repräsentative Vertretung der Bevölkerung, zu 60% pro Mietende ausdrücken. Das tut es aber nicht. Mieterfreundlich stimmen lediglich rund 30 Prozent.

Warum wählen die Leute Menschen und Parteien, die sich nicht für sie einsetzen? Eine Frage, die weh tut. Zwei Erklärungsversuche:

Die Leute nehmen Wahlen nicht ernst. Dieser Haltung bin ich im Wahlkampf einige Male begegnet. Wahlen seien nicht wichtig, in der Schweiz könnten wir Fehlentscheide des Parlaments per Abstimmung korrigieren. Ich halte diese Einstellung für fahrlässig. Ja, wir können per Referendum korrigierend eingreifen. Doch das Parlament trifft laufend Entscheide, die unser Leben beeinträchtigen können – jedes Mal das Referendum zu ergreifen, ist nicht möglich, denn Referenden sind aufwändig. Referendumskampf bedeutet, dass wir Lebenszeit aufwenden müssen, um das Schlimmste abzuwenden, das uns Parlamentarier*innen eingebrockt haben, die wir besser nicht gewählt hätten.

Wissen Wählende von Mitte, FDP und SVP, dass diese Parteien fast nie für die Mieter*innen stimmen?

Erklärungsversuch zwei: Es ist den Leuten nicht bewusst, wie die von ihnen Gewählten im Parlament konkret handeln. Weil sie nicht hinschauen und überprüfen, wie sich «ihre» Parlamentarier*innen in Einzelfragen verhalten. Wissen Wählende von Mitte, FDP und SVP, dass diese Parteien fast nie für die Mieter*innen stimmen? Die Leute könnten sich ein böses Erwachen nach den Wahlen ersparen, wenn sie die Kandidierenden genauer betrachten würden, bevor sie ihnen ihre Stimme geben. Beispiel bevorstehende Gemeinderatswahl in Bern: Der grösste Geldgeber der bürgerlichen Liste ist der Hauseigentümerverband. Werden sich die dort Kandidierenden jemals für Mietende einsetzen?

Liebe Mieter*innen, dass wir Ende November einen Angriff auf den Mieterschutz per Abstimmung abwehren müssen, ist die Folge davon, dass die Falschen im Parlament sitzen. Nur deshalb müssen wir heute viel Aufwand für null Fortschritt betreiben.

Mieterfreundliche Menschen ins Parlament zu wählen, ist der effizientere Weg. Denken Sie bei den nächsten Wahlen bitte daran.