Erwachsene können irgendwann mit der Situation konfrontiert sein, eine Wohnung räumen zu müssen. Vivianne Berg hat ein Buch dazu geschrieben.
M+W: Vivianne Berg, nach dem Tod Ihrer Mutter mussten Sie deren Wohnung räumen. Warum haben Sie jetzt – Jahre später – ein Buch zu diesem Thema geschrieben?
Vivianne Berg: Weil ich diese Aufgabe organisatorisch und emotional als Knochenarbeit erlebte und weil mir viele andere in Gesprächen Ähnliches berichteten. Erstaunlicherweise fand ich in der Fachliteratur keine Hilfestellungen, sodass die Buchidee entstand.
Worauf sollte man sich gefasst machen, wenn man die Wohnung einer soeben verstorbenen Person betritt?
Dass einem alles chaotisch vorkommt. Tatsächlich ist unwahrscheinlich, dass, wer plötzlich gestorben ist, kurz davor aufgeräumt hat. Abgesehen davon hat man den verstorbenen Menschen zu Lebzeiten vielleicht gar nicht gemocht.
Was taten Sie als Erstes in der Wohnung Ihrer verstorbenen Mutter – und wie fühlten Sie sich dabei?
Ich war wahnsinnig aufgeregt und hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Vor mir betraten zwei Polizisten die Wohnung. Sie fanden meine Mutter tot auf dem Bett. Nun eilte nichts mehr. Naja, wenigstens so lange, bis geklärt war, dass die Wohnung Ende Monat besenrein abgegeben werden muss.
Den eigenen Umzug kann man planen, das Räumen der elterlichen Wohnung hingegen nicht …
Absolut. Generell, und keineswegs nur für die elterliche Wohnung, gilt: Die Räumung ist nicht zuletzt deshalb derart kräftezehrend, weil man selber das eigene Leben, vielleicht mit Kindern, Krankheit oder vielseitigen weiteren Verpflichtungen, bewältigen muss.
Manche ältere Menschen fangen schon mal selber an zu räumen …
Es gibt alle Varianten. Die einen verdrängen den Tod oder finden halt einfach: Ich lebe, basta! Andere fangen vorzeitig an auszusortieren.
Wo anfangen, was empfehlen Sie?
Je nach Persönlichkeit und Anzahl der Räumenden, je nachdem, wie viel oder wie wenig Zeit zur Verfügung steht, kann man mit einem ersten Raum beginnen. Und sich für eine Strategie entscheiden.
Was kann eine Strategie sein?
Viele Leute sammeln irgend etwas: Korkenzieher, Eulen … Das Gesammelte steht nicht unbedingt an einem einzigen Ort. Das heisst, man könnte die Eulen aus der ganzen Wohnung zusammentragen. Eine andere Strategie für den Einstieg wäre: Aus jedem Zimmer entfernen, was eindeutig weggeworfen werden soll. Zeit erfordern üblicherweise die Zweifelsfälle.
Manche Leute machen kurzen Prozess und stellen Mulden unter die Fenster.
Das hängt von der Persönlichkeit der Räumenden ab. Wer das Hab und Gut der Eltern, einer Bekannten oder eines Nachbars aussortieren muss, mag dabei zuweilen über das eigene Leben nach-denken.
Wie fühlt es sich an, über Möbel und Gegenstände zu richten, die einem andern Menschen gehört haben?
Diese Frage tangiert einen ganz zentralen Punkt: Eine Wohnung enthält Privates und Intimes. Als Besucherin respektiert man beides, egal, wie nah man diesem Menschen steht. Sogar in der Wohnung, in der man einst selber aufgewachsen ist, bewegt man sich einigermassen respektvoll. Mit dem Tod der Bewohnerin und der Aufgabe, ihr Zuhause räumen zu müssen, ändert das schlagartig: Nun muss man in die Intimsphäre eindringen.
Die Hemmung ist wohl immer noch da – das stelle ich mir unangenehm vor.
Allerdings! Vermutlich war das ein gravierender Teil der Belastung bei meiner Mutter damals, ohne dass ich es so hätte einordnen können.
Verschwindet die Hemmung mit der Zeit, während des Räumens?
Bei mir war das so, ja. Manchen Leuten macht das ohnehin weniger aus.
Freie Tage für das Räumen einer fremden Wohnung sieht das Arbeitsrecht nicht vor. Wie macht man das organisatorisch?
Als freischaffende Journalistin konnte ich mir die Zeit selber einteilen. Meine Mutter wohnte zum Glück in Zürich, wie ich. Grosse Distanzen bilden einen erschwerenden Faktor. Weil so vieles zusammenkommt – an Entscheiden, an Organisation, Administration sowie an widersprüchlichen Gefühlen, erachte ich es als sinnvoll, die Aufgabe entsprechend aufmerksam anzugehen.
Oft sind mehrere verantwortlich für das Räumen – Geschwister, Cousinen. Was ist da wichtig?
Die Tempi und Bedürfnisse sind verschieden. Dies zu respektieren und nach Kompromissen zu suchen, ist anstrengend, aber lohnenswert. Ein Bekannter von mir bedauert heute sehr, seine Schwester zur Eile gedrängt zu haben.
Das gemeinsame Räumen bietet die Chance, sich gegenseitig zu erzählen, von Erinnerungen und Erlebnissen aus der Kindheit etwa – ausgehend von Gegenständen, die man findet. Haben Sie das so erlebt?
Kaum, weil ich fast alleine geräumt habe. Dennoch kamen Erinnerungen auf. Beispielsweise stiess ich auf meinen roten Schulthek. Meine Mutter war mehrmals umgezogen. Ich habe keine Ahnung, ob sie ihn bewusst aufbewahrt oder zufällig nicht weggeworfen hatte.
Wenn sich jemand mit der Lebensgeschichte des verstorbenen Menschen beschäftigen möchte: Worauf achtet man beim Räumen der Wohnung, um nichts, was wertvolle Hinweise geben könnte, zu übersehen?
Man kann erst mal aufmerksam durch die Wohnung gehen, um ein Gespür für diesen Menschen zu bekommen. Vielleicht fallen einem dann Dinge wie die besagten Eulen auf. Sie können, nebst Briefen und anderen persönlichen Schriftstücken, Hinweise geben. Noch was: Der Absender von Briefen, die die verstorbene Person erhalten hat, könnte auch ein Interesse daran haben. Nur schon die Geste, sie diesem Menschen anzubieten, dürfte die betreffende Person berühren.
Gibt es etwas, von dem Sie bereuen, dass Sie es weggeworfen haben?
Nein. Leider konnte ich in meiner kleinen Wohnung weder die Vitrine noch den grossen Spiegel behalten. Die Papierunterlagen ging ich aufmerksam durch, ich transportierte sie in grossen Taschen nach Hause. Die Schlaflosigkeit der ersten Nächte nutzte ich, um das alles durchzuschauen. Das war sehr stimmig.
Welche Wirkung hat der Prozess des Räumens auf die Trauer?
Das Räumen aktiviert die Auseinandersetzung mit dem Menschen, den man mochte oder eben weniger. Deshalb halte ich die Fokussierung auf die Trauer für viel zu eindimensional, da viele andere Emotionen aufkommen können.
Wut, Enttäuschung …?
Genau. Oder wenn man froh darüber ist, dass der Mensch nach langer Krankheit starb. Solche Gefühle können einem aber sogleich unangenehm sein. Das Hirn muss die verschiedenen, teils gegensätzlichen Emotionen und Gedanken gewissermassen verdauen können. Der Räum-Prozess kann diese Auseinandersetzung unterstützen.
Wie fühlten Sie sich, als Sie am Monatsende den Schlüssel abgaben?
Puhhh: Erleichtert!
Vivianne Berg «Das Hinterbliebene. Der Nachlass – Anregungen zur Triage». Verlag Zocher & Peter 2020.
Gespräch: Esther Banz