Ungewisse Zukunft am Albis

Foto: Keystone/Til Buergy

Die Zürich Invest AG hat 284 Mieter*innen der Vita-Siedlung in Langnau am Albis gekündigt. Auf einen Schlag und obwohl die Eigentümerin einst eine Etappierung versprochen hat. Auch in der Agglomeration wird bezahlbarer Wohnraum zur Mangelware.

Doris Weber sitzt auf ihrem Balkon und blickt ins Grün des nahegelegenen Waldes. Sie seufzt. Dann ringt sie sich ein Lächeln ab und sagt: «Wenn ich hier sitze, bin ich glücklich. Ich will nicht weg.» Ihre Stimme bricht, ihr kommen die Tränen. Doris Weber weiss nicht, wie lange sie den Ausblick auf den Sihlwald noch geniessen kann. Seit 15 Jahren lebt die 72-jährige ehemalige Pflegefachfrau in der Langnauer Vita-Siedlung im Sihltal. Im März kam per Post der Schock: Zusammen mit 283 weiteren Mietparteien erhielt Doris Weber die Kündigung ihrer Wohnung. Bis Ende September 2025 müssen alle raus. Wer per Vertrag verspricht, sich nicht gegen die Kündigung zu wehren, kann ein Jahr länger bleiben. Betroffen sind knapp 800 Personen.

«Unmenschliches» Vorgehen

Grund für die Kündigung ist derselbe wie meist: Die Zürich Invest AG, Vermögensverwalterin, Tochterfirma der Zürich Versicherung und Besitzerin der Vita-Siedlung, will die Häuser total sanieren und auf dem Areal verdichten. Dass bei den Bauten aus den 1960erJahren Sanierungsbedarf besteht, ist unbestritten. Die Siedlung ist in die Jahre gekommen. Das sieht auch Doris Weber ein: «Vielen war klar, dass hier irgendwann etwas passiert. Aber dass wir alle ohne Vorwarnung die Kündigung erhalten, ist unmenschlich.»

Eine IG gegen die Kündigung

Dem stimmen Susan Ponti und Fredi König zu. Susan Ponti ist Schulpflegerin und politisch in Langnau aktiv. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren in einem der Einfamilienhäuser in der Siedlung. Seit acht Jahren ist die Grossfamilie hier zu Hause, die Kinder sind im Quartier sowie im Dorf verwurzelt, besuchen Schule oder Kindergarten und sind in Vereinen aktiv. Fredi König wohnt seit 33 Jahren in Langnau und seit 2002 in einem der Hochhäuser der Siedlung. Vor zwei Jahren verlor er seine Stelle als Informatiker, auch er ist politisch engagiert. Seine drei Kinder wuchsen in der Siedlung auf, zwei von ihnen leben noch immer in der Nähe. Die Vita-Siedlung ist eine wichtige Grundlage im Leben des 62-Jährigen. Dass diese nun einfach so verschwinden soll, will er nicht hinnehmen. Zusammen mit Susan Ponti hat er deshalb die IG Vita gegründet. «Wie die Eigentümerschaft hier vorgeht, ist asozial. Darum ist es wichtig, dass sich möglichst viele wehren», betont König.

Susan Ponti ihrerseits will etwas gegen die Ungerechtigkeit tun, die den Mieter*innen mit dieser Kündigung widerfährt. «Viele Menschen, die hier leben, sind auf einen tiefen Mietzins angewiesen und haben kaum Spielraum nach oben.» Ausserdem würden wichtige soziale Strukturen auseinanderfallen: Betreuungssysteme in Familien, Nachbarschaftshilfen, soziale Kontakte. Dem sei sich die Eigentümerschaft nicht bewusst.

Eigentümerin hält sich bedeckt

Was den Bewohner*innen besonders sauer aufstösst, ist die die Kündigung aller Parteien auf den gleichen Termin. Nicht zuletzt, weil sich die Zürich Invest AG verpflichtet hat, bei einer Sanierung schrittweise vorzugehen. In einem städtebaulichen Vertrag mit der Gemeinde verspricht die Eigentümerin eine bauliche Etappierung. Die konkrete Umsetzung ist nicht definiert und Gegenstand aktueller Verhandlungen zwischen dem Langnauer Gemeinderat und der Zürich Invest AG. Zum Stand dieser Verhandlungen kann Gemeindepräsident Reto Grau nichts sagen. Im offiziellen Statement heisst es, der Gemeinderat bedaure die gleichzeitige Kündigung aller Mietverhältnisse. Und: «Wenn mit der Zürich Invest AG keine Einigkeit erzielt werden kann, wird das vertraglich vorgesehene Schlichtungsverfahren ausgelöst.»

Die Eigentümerin hält sich bedeckt. Auf Anfrage verweist Mediensprecherin Simone Hutmacher auf den Sanierungsbedarf. Man habe in enger Abstimmung mit der Gemeinde ein Projekt ausgearbeitet, das mehr Wohnungen und mehr Wohnfläche schaffe. «Aktuell sind konstruktive Gespräche mit der Gemeinde im Gang, um das weitere Vorgehen zu besprechen und die beste Lösung für alle Beteiligten zu finden», so Hutmacher. Ob die Bedürfnisse der Bewohner*innen dabei wirklich berücksichtigt werden, ist unklar.

Kaum bezahlbare Wohnungen in Langnau

Walter Angst, Co-Geschäftsleiter des Mieterinnen- und Mieterverbands Zürich, ärgert sich über das Vorgehen der Eigentümerin: «Dass die Zürich Invest AG allen auf einen Schlag gekündigt und die Etappierung damit ignoriert hat, ist an Arroganz kaum zu überbieten», sagt er. Der MV Zürich unterstützt die IG Vita von Susan Ponti und Fredi König sowie die Bewohner*innen der Siedlung. An einem Informationsanlass klärten Rechtsexpert*innen des Verbandes über die Einsprachemöglichkeiten auf, ermutigten die Anwesenden, sich gegen die Kündigung zur Wehr zu setzen, und reichten anschliessend Einsprachen ein. Zudem führte der MV Zürich eine Siedlungsumfrage durch, in der er die Bedürfnisse der Bewohner*innen abholte. Die Ergebnisse liegen zwar noch nicht vor, trotzdem zeichnen sich zwei Tendenzen ab: Mehr Zeit und die Möglichkeit, zu einem zahlbaren Mietpreis zurückkehren zu können. Der Grund: Der Wohnungsmarkt in Langnau ist ausgetrocknet. «Es gibt aktuell etwa drei bezahlbare Wohnungen. Wohin sollen all die Menschen gehen?», sagt Susan Ponti.

Der Druck aus der Stadt schwappt über

Auf diese Entwicklung blickt Walter Angst mit Sorge. Denn das Vorgehen institutioneller Eigentümerschaften, das man aus der Stadt Zürich bestens kennt – mit Leerkündigungen und Neubauten mit hohen Mieten –, könnte in den nächsten Jahren auch in der Agglomeration stark zunehmen. Laut Angst gibt es gerade im Sihltal zahlreiche Siedlungen aus den 1970er- und 1980erJahren, die demnächst saniert werden könnten. Angst: «Wir spüren jeden Tag, dass der in der Stadt omnipräsente Druck auf die Mieter*innen in die Bezirke rund um Zürich hinüberschwappt.»

Hoffen auf Gerechtigkeit

In Langnau hoffen die Bewohner*innen derweil, dass ihr Druck und die Verhandlungen der Gemeinde bei der Eigentümerschaft für ein Umdenken und Menschlichkeit sorgen. So wünscht sich Fredi König mehr Zeit für die Suche nach einem neuen Zuhause oder sogar die Möglichkeit, in eine sanierte Wohnung zurückzukehren. Susan Ponti sagt: «Ich hoffe auf klare Kommunikation und eine faire Etappierung, damit die Menschen hier die Möglichkeit haben, ihre Zukunft zu planen.» Und für Doris Weber ist klar: «Ich will mein Zuhause nicht aufgeben. Damit bin ich nicht alleine. Darum hoffe ich auf Gerechtigkeit für uns alle.»

Text: Samantha Taylor