Gekündigt wegen Eigenbedarf

Katrin T.’s Vormieter Martin H. wurde gekündigt – «Eigenbedarf» stand im amtlichen Formular.

Kein Wort fürchten Mieterinnen und Mieter so sehr wie «Eigenbedarf». Oft wird er als Grund für eine Kündigung angegeben – auch wenn es gar nicht stimmt. Trotzdem sollen Mietende künftig noch einfacher wegen (angeblichen) Eigenbedarfs rausgeschmissen werden können.

Seit Katrin T. ihr Zuhause verloren hat, ist ihr Leben nicht mehr dasselbe. Die Fahrlehrerin wohnte fast zehn Jahre in ihrem geliebten Knusperhäuschen in einem Ostschweizer Weiler. Mit dem Besitzer, der im Ausland lebt, war sie per du. Sie verstanden sich gut. Er wusste auch von ihrem kürzlichen Unfall und dass sie seither gesundheitlich angeschlagen ist. Die Kündigung wegen Eigenbedarfs traf an Katrin T.’s Geburtstag ein, im Juni dieses Jahres. Der Schock und die Erschütterung nahmen ihr viel Kraft – sie war nicht in der Lage, die Kündigung anzufechten oder wenigstens eine Fristerstreckung zu verlangen. Aber ihre Enttäuschung war bodenlos und schmerzvoll. Und es sollte alles noch schlimmer kommen.

Die ansonsten wehrhafte Mieterin brauchte ein neues Zuhause für sich und ihr Kind. Es musste eines sein, das in der Umgebung ist – denn das Kind ist noch in Ausbildung. Und ihr Geschäft ist lokal verankert. «Ich nahm die erstbeste Wohngelegenheit, die ich finden konnte», sagt sie. Katrin T. wusste bei der Vertragsunterzeichnung nicht, dass ihrem Vormieter Martin H. gekündigt worden war. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Besitzer des Bauernhof-Stöcklis hatte sich zunehmend verschlechtert – das war einer der Kündigungsgründe gewesen. Ein anderer: ebenfalls «Eigenbedarf». Was seltsam ist, denn weder die Besitzer noch Verwandte zogen ein. Katrin T. fand das Stöckli, das auf den ersten Blick gut aussah, im Internet ausgeschrieben. Wenn sie gewusst hätte, was sie erwarten würde, hätte sie einen grossen Bogen darum herum gemacht, sagt die selbstbewusste Frau. Nicht nur sassen sie und ihr Kind kurz nach Einzug fröstelnd in unbeheizten Räumen, für die sie mehr als 2000 Franken im Monat bezahlt. Sie hatte in ihrer Not auch eingewilligt, erst frühestens in einem Jahr wieder auszuziehen – bis dann muss sie die Miete bezahlen. Katrin T. sagt: «Ich fühle mich an manchen Tagen, als würde gleich alles über mir zusammenbrechen.» Sie vermisst ihr vorheriges Zuhause, und ihre durch den Unfall ausgelösten körperlichen Schmerzen sind durch diese zusätzliche psychische Belastung stärker geworden. Sie zweifelt noch immer, dass der Kündigungsgrund Eigenbedarf bei ihrem geliebten Zuhause rechtens war. Denn es sehe nicht danach aus, als kehre das Besitzerpaar in die Schweiz zurück, und die erwachsenen Kinder kann sich Katrin T. nicht in dem abgelegenen Weiler fern jeden öffentlichen Verkehrs vorstellen. Das Häuschen wird derzeit renoviert. Für wen, fragt sie sich.

Die neuen Mieter im Haus zahlen 1000 Franken mehr im Monat

Absolut unglaubwürdig mutet der Eigenbedarf eines Vermieters im Zürcher Kreis 5 an. In einer der Wohnungen im Mehrfamilienhaus wohnt Sandro G. Obwohl der Vermieter erfuhr, dass der einstige Journalist chronisch krank ist und es mit seiner IV-Rente schwierig werden würde, in der Stadt eine andere Wohnung zu finden, drängte er beim langjährigen, verwurzelten Mieter auf eine rasche Kündigung – und auch bei einem weiteren. In dessen Wohnung wolle er selber einziehen, behauptete der Geschäftsmann, der mit seiner Frau in einem kürzlich sanierten Eigenheim ausserhalb der Stadt lebt. Die Wohnung, in der er angeblich künftig leben will, ist im Vergleich dazu winzig, und das Haus liegt an einer belebten, mitunter lärmigen Strasse. Trotzdem soll auch der Sohn in dieses Haus einziehen, konkret in Sandro G.’s Wohnung. Dringend, denn er beginne eine Ausbildung ganz in der Nähe. Seit der Kündigung vor zwei Jahren sind im Haus mehrere Wohnungen frei geworden. Weder der Vermieter noch sein Sohn zogen je ein. Sandro G. und der andere gekündigte Mieter sind mit Abstand am längsten im Haus, ihre Mietzinse entsprechend günstig. Von erst in den letzten Jahren eingezogenen Nach-barn weiss Sandro G., dass sie rund 1000 Franken mehr für die Miete einer gleich grossen Wohnung bezahlen. Ihm bleibt noch rund ein Jahr bis zu dem Tag, an dem er die Wohnung geräumt haben muss. Mit jedem Tag wird seine Angst grösser.

Sandro G. fürchtet sich davor, keine zahlbare Wohnung mehr zu finden.

Beispiele wie diese gibt es unzählige. Der Eigenbedarf ist das Killer-Kündigungs-Argument für Hausbesitzer*innen, die ihre Mieter*innen zwecks mehr Rendite auswechseln wollen. Macht ein Vermieter von ihm Gebrauch, muss er respektive sie oder jemand aus der näheren Verwandtschaft einziehen: Ehegattin, Partner, Kinder, Eltern, Grosskinder oder Geschwister und deren Ehegatten. Der Eigenbedarf muss ernsthaft, konkret und aktuell sein sowie auf erwiesenen Tatsachen beruhen. Ein künftiger oder hypothetischer Bedarf genügt nicht.

Seit der Kündigung vor zwei Jahren sind im Haus mehrere Wohnungen frei geworden. Weder der Vermieter noch sein Sohn zogen je ein.

Eigenbedarf wird als Grund vorgeschoben

Aber das Gesetz schützt die Mietenden nicht ausreichend: Immer wieder begegnen Anwält*innen, die Mieter*innen vertreten, Wohnungen wieder, die ihren Mandant*innen zuvor wegen Eigenbedarfs gekündigt worden waren. Eine der aufmerksamen Anwältinnen ist Sarah Brutschin. Sie hat schon viel gesehen. Trotzdem staunt sie immer wieder über das Vorgehen von Vermieter*innen: «In einem Fall traf es eine ältere Dame mit einer Hörbehinderung. Nachdem der Besitzer ihr gekündigt hatte, weil er die Wohnung nun selber brauche, entdeckte ich ihr langjähriges Zuhause auf einer Online-Plattform teurer ausgeschrieben wieder.» In einem anderen Fall musste ein Paar ausziehen, das gerade ein Kind erwartete. Auch da behauptete der Besitzer, er benötige die Wohnung für sich. Und auch diese Wohnung wurde an neue Mieter*innen vermietet. Brutschin sagt: «In solchen Fällen konfrontiere ich die Gegenanwälte manchmal damit. Sie finden meistens eine Erklärung, die es ihnen ermöglicht, die Neuvermietung zu begründen.» Zum Beispiel: Der Besitzer habe im Verlaufe des Kündigungsanfechtungsverfahrens das Interesse verloren. Bloss stelle sich in einem solchen Fall die Frage, weshalb der Vermieter an der Kündigung überhaupt noch festgehalten und auf einen Auszug der Mietenden bestanden hat.

Sollen Kündigungen in Zukunft noch einfacher sein?

Und jetzt sollen Hausbesitzende Mieter*innen noch einfacher kündigen können. Für noch mehr Profit mit den (neuen) Mieten. Haben sie inzwischen jedes Verantwortungsbewusstsein und jeden Sinn für eine funktionierende Gesellschaft verloren? Man denke an die Menschen, die im Abfallwesen, auf dem Bau, in der Bildung, auf den Feldern und in der Pflege in Alterszentren und Spitälern arbeiten: Die grosse Mehrheit wohnt zur Miete.

Sarah Brutschin erlebt immer wieder, dass schon das heutige Gesetz zu wenig Schutz bietet.

«Wenn die Politik anfängt, geltende grundlegende Rechte mit neuen Ausnahmen zu schwächen, müssen die Alarmglocken läuten.» – Sarah Brutschin

Trotzdem sollen ihr Schutz vor missbräuchlichen Kündigungen geschwächt und ihre Rechte weiter eingeschränkt werden. Das passiert im Fall des Eigenbedarfs über neue Ausnahmen. Besonders davon betroffen sind die Mieter*innen von Geschäftsräumen. Aber auch Wohnungsmietende kann es treffen; so verliert eine Mieterin, die sich erfolgreich gegen eine Mietzinserhöhung gewehrt hat, nach einer Handänderung beim neuen Hausbesitzer einen Teil des Kündigungsschutzes. Ohnehin sagt Rechtsanwältin Sarah Brutschin: «Wenn die Politik anfängt, geltende grundlegende Rechte mit neuen Ausnahmen zu schwächen, müssen die Alarmglocken läuten».

Fahrlehrerin Katrin T. wird ein wachsames Auge darauf halten, wer in ihr geliebtes Knusperhäuschen einziehen wird, und je nachdem doch noch kämpfen. Auch Martin H. überlegt sich, die Kündigung nachträglich anzufechten, weil die «Eigenbedarf»-Begründung offensichtlich missbräuchlich war. Sandro G. hatte bereits ein Verfahren – bei ihm würde es deshalb schwieriger, jetzt noch wegen Missbräuchlichkeit zu klagen. Und dann sind da noch seine Krankheiten. Er wartet jetzt ab und schaut, wer dieses Mal einzieht. Keine Zeit zu verlieren haben hingegen alle stimmberechtigten Mieter*innen. Ende November sind sie gefragt, um den aktuellen Rechtsverschlechterungen Einhalt zu gebieten. Und bald schon weiteren.

* Alle Namen der Mieter*innen sind geändert. Alle Mieter*innen und Vermieter sind der Redaktion bekannt.

Text: Esther Banz, Bilder: Reto Schlatter, Gaspard Weissheimer